»Hier vergeht kein Tag ohne Gewalt«

Afghanistan versinkt in Gewalt und Terror gegen Menschenrechtler, Intellektuelle und Journalisten

  • Emran Feroz
  • Lesedauer: 5 Min.

In den zurückliegenden 40 Jahren war es in Afghanistan ja nie besonders sicher. Nun wurde Mitte Januar die Anzahl der dort stationierten US-Soldaten auf 2500 Mann reduziert - infolge einer Anordnung des US-Präsidenten Donald Trump vom November des vergangenen Jahres. Der Truppenabzug ist mit dem Deal verbunden, den die USA im vergangenen Frühling mit den aufständischen Taliban im Golfemirat Katar abgeschlossen hatten.

Doch nun eskaliert in Afghanistan die Sicherheitslage. Krieg, Terror und eine hohe Kriminalitätsrate gehören zum Alltag. Vor allem die Hauptstadt Kabul, in die europäische Staaten auch in Pandemie-Zeiten weiterhin abschieben, gehört mittlerweile zu den unsichersten Flecken des Landes. Für Aufmerksamkeit sorgten zuletzt vor allem brutale Diebesbanden und gezielte Mordanschläge auf prominente Persönlichkeiten.

Während die Regierung weiterhin nicht Herr der Lage wird, wächst die Kritik. »Hier vergeht kein Tag ohne Gewalt. Viele Gegenden gelten als No-go-Areas, vor allem, wenn man allein unterwegs ist. Man wird für ein Handy und ein wenig Kleingeld ermordet. Hinzu kommen all die gezielten Attentate auf wichtige Persönlichkeiten unserer Gesellschaft. All dies passiert vor unseren Augen und niemand scheint es stoppen zu können oder zu wollen«, meint Zubair Hakim, 24, der als Ingenieur tätig ist.

Mit dem verstärkten Abzug der US-Truppen wird die schlechte Sicherheitslage allerdings selten in Verbindung gebracht. »Wir brauchen keine ausländischen Soldaten, die uns schützen sollen. Dies sollte nämlich die Aufgabe unseres eigenen Sicherheitsapparates sein, doch dieser hat versagt«, so Hakim.

Hakim gehört einer weiteren Generation von Afghanen an, die mit Krieg und Traumata aufgewachsen sind. Als die Friedensgespräche mit den Taliban begannen, hegte Hakim Hoffnungen, so wie viele seiner Landsleute. Doch nun ist seit dem US-Taliban-Deal fast ein Jahr vergangen. Ein Jahr, in dem sich für viele Afghanen nichts verändert hat. Während amerikanische Soldaten nicht mehr zum Ziel der Militanten gehören, werden Afghanen weiterhin angegriffen. Zeitweise hatte sich sogar ein Witz verbreitet, wonach es im Land sicher sei, sofern man im Schatten einer US-Militärbasis lebe. Brutal gehen allerdings auch staatliche Akteure vor, etwa die afghanische Armee, die weiterhin zivile Ziele in ländlichen Gebieten rücksichtslos bombardiert. Der Krieg wurde, ähnlich wie in den 1990er-Jahren nach dem Abzug der sowjetischen Truppen, vollständig »afghanisiert«.

Viele junge Afghanen haben den damaligen Bürgerkrieg nur vage in Erinnerung oder allenfalls jene Schreckensgeschichten gehört, die weitläufig bekannt sind. Nach dem Fall des »Eisernen Vorhangs« konnte sich das letzte kommunistische Regime in Kabul nicht lange halten. 1992 fiel Kabul in die Hände der Mudschaheddin-Rebellen: Über ein Jahrzehnt lang bekämpften sie die UdSSR und ihre afghanischen Verbündeten. Kurz darauf entflammte ein weiterer Bürgerkrieg und die Mudschaheddin bekriegten einander, während sie plünderten und mordeten und die Hauptstadt in Schutt und Asche legten. Nicht wenige Afghanen vergleichen den damaligen Zustand aus Chaos und Anarchie mit der gegenwärtigen Situation. Es waren jene Umstände, die Mitte der 1990er Jahre den Aufstieg der reaktionären Taliban überhaupt erst ermöglichten.

»Es wurde schon lange ein Punkt erreicht, an dem es vielen Menschen egal ist, wer hier regiert. Die sicherheitspolitische Situation in Afghanistan ist untragbar, ähnlich verhält es sich mit der wirtschaftlichen. Beide Aspekte sind vor allem für junge Afghanen unabdingbar. Wir können unsere Zukunft nicht planen, da wir in stetiger Angst leben«, meint Mohammad Idris, 30, der als Pflegekraft in einem Krankenhaus tätig ist. Er ist froh, dass er in diesen Zeiten einen Job hat. Die Arbeitslosenquote in der überdurchschnittlich jungen afghanischen Gesellschaft ist hoch. Viele Afghanen wie Idris denken über ein Leben im Ausland nach, über Auswanderung und Flucht. Zeitgleich sorgen jene jungen Karrieristen für Unmut, die sich um Präsident Ashraf Ghani geschart haben. Zumeist lebten und studierten diese zuvor in westlichen Ländern und haben mittels Vetternwirtschaft hohe Regierungsposten erhalten. Während Ghani von der Expertise seiner Auslands-Afghanen schwärmt, haben viele von ihnen auch die Korruption im Land vorangetrieben und sind regelmäßig in weitere Skandale verwickelt.

»Man kommt sich einfach dumm und ungerecht behandelt vor. Viele junge Afghanen haben enorme Risiken in Kauf genommen, um in ihrer Heimat zu bleiben. Sie wollen ihrem Land in erster Linie helfen und sich nicht an westlichen Hilfsgeldern bedienen«, meint Ingenieur Hakim, der selbst für die Regierung arbeitet. Die Korruption hat er gesehen und zu spüren bekommen. »Fähige Kräfte haben oftmals keinen Status. Befördert wird man nur mittels Beziehungen«, sagt er.

Umso wichtiger ist es den Menschen, dass ein Frieden mit den Taliban zustande kommt. »Der Frieden, auf den wir hofften, ist noch nicht da. Stattdessen erleben wir eine Welle der Gewalt und verlieren tagtäglich Journalisten, Aktivisten, Menschenrechtler und Intellektuelle. Sobald die Taliban Teil der Regierung werden, besteht allerdings die Möglichkeit, dass viele von ihnen die Waffen niederlegen. Ich wünsche mir sehr, dass dies geschieht«, sagt Soraya Muradi, 24, Studentin aus Kabul. Als Frau ist sie sich darüber im Klaren, dass die Taliban ihre Interessen kaum vertreten werden. »Doch das gilt auch für die Regierung und vermeintliche Frauenrechtlerinnen, die sich lediglich inszenieren und in den letzten Jahren persönlich bereichert haben«, betont sie.

Journalisten sind schon länger Ziel von Terroranschlägen. Der erste Tag des Jahres 2021 begann abermals mit Trauer. In der Provinz Ghor wurde der Radiojournalist Bismillah Adil Aimaq getötet. Die Identität der Täter blieb erneut im Dunkeln. Damit setzte sich ein blutiger Trend fort: Mindestens acht Journalisten und Medienschaffende wurden 2020 in Afghanistan getötet.

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