Nicht nur ein Kulturkonflikt

Die Soziologin Yana Milev erklärt, warum der Osten anders tickt

  • Stefan Bollinger
  • Lesedauer: 5 Min.

Man mag es kaum glauben: Jenseits der gerade wieder abgeebbten Einheitseuphorie, die mit einigen nachdenklichen Momenten doch nur den Erfolg der deutschen Einheit beschwor, finden kritische Geister nicht nur ein Haar in der Suppe. Zwar ist es mittlerweile - dank der anhaltenden Erfolge der AfD - auch manchen Westdeutschen und Angehörigen der neuen Eliten in den östlichen Bundesländern klar geworden, dass der Osten anders tickt. Es geht dabei nicht nur um Fehler der Treuhand, um kriminelle Machenschaften der Wirtschaft, um abrupt unterbrochene und entwertete DDR-Biografien und die breite soziale Benachteiligung der Ostdeutschen bei der Besetzung von Spitzenposten ebenso wie bei der Angleichung der Lebensverhältnisse bezüglich Einkommen, Renten, Vermögen und Grundeigentum.

Yana Milev, Kultursoziologin mit DDR- wie bulgarischem Hintergrund, heute Privatdozentin der Universität St. Gallen, geht das Thema prinzipieller an. In einer auf sechs Bände angelegten Geschichte und Analyse der Transformation der DDR beziehungsweise Ostdeutschlands macht sie grundsätzliche Fehlleistungen aus, die mit dem Selbstverständnis der westdeutschen Führungskräfte in Politik und Ökonomie, aber auch mit dem erzwungenen, eingeredeten und praktizierten Preisgeben der eigenen Identität nicht weniger Ostdeutscher zu tun haben. Im hier zu besprechenden dritten Band »Exil« erlaubt sie sich den Kunstgriff, von den Ostdeutschen als ins Exil gezwungenen Menschen zu sprechen, über deren Köpfe hinweg und ohne deren Befragung oder Beteiligung im mehr oder weniger zwangsvereinten Deutschland entschieden wird.

Die Autorin hält den gleichmachenden Begriff »Ostdeutsche«, zu denen pauschal alle in der DDR sozialisierten Bürger, die aus den »alten« Bundesländern unter unterschiedlichen Vorzeichen und aus unterschiedlichen Motiven in den Osten zugewanderte wie auch nach der »Vereinigung« dort geborene Menschen gezählt werden, für irreführend. Ihr geht es explizit um jene, die nicht nur eine doppelte Systemerfahrung, sondern ab 1990 einen »krassen sozialen Wandel« und »Kulturkonflikt« erlebt haben. Mit anderen Worten, es geht um jene Ostdeutschen, deren in der Wendezeit vertretenen und erhofften politische Ziele zerplatzt sind durch die Art und Weise der westdeutschen Übernahme ihres Landes und Lebens, deren individuelle Biografien missachtet und berufliche Perspektiven genommen wurden.

Yana Milev schließt sich kritischen wissenschaftlichen Analysen an, die es seit den 1990er-Jahren gibt und die von einer besonderen Situation in Ostdeutschland als Anschlussgebiet ausgehen, die das Ausbleiben der Angleichung der Lebensverhältnisse benennen und in der einen oder anderen Weise auf die Fortexistenz oder gar Neukonstruktion von »zwei Gesellschaften« im vereinten Deutschland verweisen. Sie spitzt diese Befunde für zwei Drittel der DDR-Bürger und Bürgerinnen mit aktiver Sozialisation im ostdeutschen Staat zwischen den 1940er- und 1970er-Jahren zu, also jene »Ostdeutschen, die eine Erfahrung der Exklusion (Ausschluss) und der Exilierung (Entheimatung) aufgrund von Verlust, Abstieg, Armut, Krankheit (plötzlich und chronisch) und Suizid machen mussten«. Solche Erfahrungen und Erlebnisse entdeckt sie aber auch bei sogenannten Wendekindern.

Ihren theoretischen Ansatz untersetzt die Autorin mit detaillierten Untersuchungen. Eines ihrer Stichworte lautet »Vertreibung«, womit die Folgen der massiven Deindustrialisierung des Ostens und der Zwang zu einer neuen Wanderarbeiterschaft von hoch qualifizierten DDR-Facharbeitern gemeint ist, ebenso für Jugendliche die Suche nach Ausbildungsplätzen in der »Ferne«. Milev entlarvt die Vereinigungskriminalität im Umfeld der Treuhandanstalt, die zielgerichtete Aneignung des ostdeutschen Produktiv- und Immobilienvermögens durch westdeutsche Unternehmer, kleine wie große. Breiten Raum nimmt in dem vorliegenden Band die Traumatisierung der Ostdeutschen ein, für die ihrer Ansicht auch die mit deren Lebenserfahrungen nicht übereinstimmende, im Gegenteil, zu jenen konträr stehenden »Geschichtsaufarbeitung« der Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur sowie der Behörde der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit verantwortlich sind. Materielle Enteignung und Diskreditierung der Vergangenheit, politisch gewollte Säuberungen, die stetige Rede vom »Unrechtsstaat« DDR bis hin zum kulturellen Kahlschlag und die von ihr genauer untersuchten Selbstmorde in Ostdeutschland nach 1990 sind für sie Tatbestände einer vereinigungsbedingten »Kulturkatastrophe«.

Milev lässt keinen Zweifel daran, dass die Ostdeutschen eine neue Klasse von »Exil« repräsentieren. Sie rekrutiere sich aus Repräsentanten aller Schichten. Zu ihnen zählen Akademiker, Künstler, Kulturschaffende und Ärzte, Facharbeiter, Lehrer, Bauern und viele mehr. Die neue »Klasse« wachse weiter, umfasse die Nachkriegs- wie auch wie die nachwachsende ostdeutsche Generation.

Ob diese Klassenanalyse ausreicht für anstehende soziale Auseinandersetzungen, sei dahingestellt. Sie sollte allerdings linke Kräfte eindringlich mahnen, dass die Notwendigkeit einer speziellen Interessenvertretung der Ostdeutschen kein erledigtes Thema ist und das Abdriften eines Teils der ostdeutschen Wählerschaft zur AfD und in andere nationalistisch-völkische Kreise sehr wohl etwas mit dem Versagen linker Politik zu tun hat. Die Rolle der PDS in den 1990er-Jahren als »Kümmerpartei« scheint der heutigen Linken abhandenzukommen. Der Mangel an Netzwerken, vor allem aber an Eigentum und Vermögen wird Ostdeutschen auch bei bester Qualifikation und gutwilliger Anpassung weiterhin im vereinten Deutschland benachteiligen.

Das Schicksal anderer Anschlüsse in der Weltgeschichte, etwa der Franko-Kanadier, der Basken und Katalanen bis zu den Schotten, lehrt, dass hier Kräfte und Konflikte über Generationen und Jahrhunderte fortwirken und die Gesellschaft weiter spalten. Dessen ungeachtet darf nicht aus dem Blick geraten, dass eigentlichen sozialen Konfliktlinien zwischen Arm und Reich verlaufen. Ostdeutsche gehören mehrheitlich immer noch zu den sogenannten sozial Schwachen. Deren strukturellen Kolonialisierung muss ein Ende bereitet werden.

Yana Milevs Buch ist eine große Leserschaft zu wünschen. Man sollte sich nicht von der gelegentlich stark soziologischen Sprache entmutigen lassen und die hier ausgebreiteten Fakten und Zusammenhänge gewinnbringend aneignen. Angesichts des stattlichen Preises dieses wissenschaftlichen Werks sei die Ausleihe in Bibliotheken empfohlen.

Yana Milev: Entkoppelte Gesellschaft. Ostdeutschland seit 1989/90. Exil. Band 3. Verlag Peter Lang, 594 S., geb., 94,95 €.

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