Was ein Impfstoff alles leistet

Aus dem Schutz der Gesundheit sind außenpolitische Machtfragen geworden.

Über den Rezeptor ACE2 heftet sich der Virus Sars-CoV-2 an menschliche Zellen, dringt in sie ein, hinterlässt dort sein Erbgut, was zur Krankheit Covid-19 führt und zur Pandemie, die die Welt in Atem hält. Die nun entwickelten Impfstoffe bewirken eine Immunantwort des Organismus, die Zelle wird so auf das Virus vorbereitet und kann die Krankheit verhindern oder dämpfen. So weit die Biologie. Im globalen Kapitalismus allerdings ist der Impfstoff weit mehr. Er dient als Mittel des Profits für Konzerne und führt zu »Impfkriegen in Europa« (»New York Times«). An ihm hängen derzeit Macht und Reputation von Staaten, die alles zum Material ihrer Konkurrenz machen. Wozu ein Impfstoff alles gut ist - ein Überblick.

Der Profit

Regierungen haben die Entwicklung von Impfstoffen mit Milliarden gefördert und den Herstellern mit Abnahmegarantien eine ungewöhnliche Sicherheit geboten. Das lohnt sich: Die deutsche Biontech erwartet dieses Jahr einen Vorsteuergewinn von 4,4 Milliarden Euro - verglichen mit einem Verlust von 270 Millionen 2020. Biontech-Partner Pfizer will dieses Jahr mit dem Impfstoff 15 Milliarden Dollar einnehmen, das wäre ein Viertel des Gesamtumsatzes. Das ist profitabel. Laut DZ Bank winkt Pfizer eine Marge - also ein Anteil des Gewinns am Umsatz - im »hohen 20 %-Bereich«.

Laut US-Investmentbank Goldman Sachs dürfte Pfizer-Konkurrent Moderna seinen Umsatz durch den Impfstoff auf 13 Milliarden Dollar erhöhen - ein weiter Sprung von den 60 Millionen, die 2019 anfielen. Astra-Zeneca wiederum hat zwar versprochen, seinen Impfstoff zum Selbstkostenpreis abzugeben - allerdings nur, solange die Pandemie andauert. Der schwedisch-britische Konzern hat sich das Recht gesichert, schon im Juli Preisaufschläge zu verlangen. Wie profitabel die Pandemie ist, erkennt man an den Erwartungen für die Nach-Pandemie-Zeit: Im Durchschnitt erwarten Analysten für Biontech und Moderna einen Umsatzeinbruch von 40 Prozent und mehr im nächsten Jahr.

Die Hersteller müssen sich also beeilen, um die existierende Nachfrage auszunutzen. Sie erhöhen daher mit allen Mitteln ihre Produktionskapazitäten. Sie versichern: Mehr Produktion, als bisher geplant, ist nicht drin und würde auch durch Zwangslizenzen oder Patentfreigaben nicht ermöglicht. Der aktuelle Mangel an Impfstoff sei also kurzfristig nicht zu lösen.

Der Streit

In der EU ist ein heftiger Streit darüber entbrannt, warum sich der Block so wenig Impfstoffe gesichert hat. Denn Länder wie Israel, Großbritannien und sogar die USA stehen weit besser da. Die EU habe bei der Bestellung »zu langsam« reagiert, kritisierte Ex-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Dieser Streit ist aufschlussreich. Denn erstens entsprechen die aktuellen Prognosen darüber, wann ein breiter Impfschutz erreicht sein wird, ziemlich genau den Prognosen von Ende 2020, als zum Beispiel die Bank ABN Amro schrieb, sie erwarte den Impfschutz erst im 3. Quartal 2021. Also eigentlich kein Grund zur Aufregung.

Zweitens kommt es letztlich sowieso darauf an, dass alle Menschen weltweit geimpft werden. Denn »besteht die Epidemie in den einen Ländern weiter, gefährdet dies die Immunisierung in anderen Ländern«, erklärt Chad P. Brown vom Peterson Institute in Washington. Daher sei Kooperation die Antwort, nicht Konkurrenz. Und drittens gibt es derzeit weltweit schlicht nicht genug Impfstoff - dass die einen geimpft werden und die anderen warten müssen, ist notwendig. Wäre die EU schneller gewesen, hätten andere Länder warten müssen.

Die Macht

Die Kritiker der EU nehmen also keine globale Perspektive ein, sondern eine nationale: Wir hätten die anderen verdrängen müssen! Motiviert wird diese Sichtweise durch die Tatsache, dass der Impfstoff für Länder eine Machtressource ist. Und zwar in mehrerer Hinsicht. Zum einen verhilft er zu mehr Wirtschaftswachstum. Wer als erster seinen Lock-down beenden kann, profitiert. Derzeit kostet die Einschränkung des öffentlichen Lebens die EU rund zwölf Milliarden Euro Wachstum pro Woche, errechnet Bloomberg Intelligence.

Zudem gewinnt ein Land Macht über andere Länder, wenn es über den Impfstoff und seine Zuteilung verfügt. Denn mit ihm hat es quasi eine externe Existenzbedingung für andere Staaten unter Kontrolle. Noch im November 2020 versprach EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen: »Wir werden rund 700 Millionen Menschen impfen können. Wir werden am Westbalkan und in Afrika mitimpfen können.« Doch den daraus resultierenden Einfluss sichern sich jetzt andere Staaten, vor allem Russland und China.

So wird »Putins Impfstoff« (Business Insider) Sputnik V inzwischen in Belarus und in der Ost-Ukraine verabreicht. Die ukrainische Regierung dagegen hat Sputnik V verboten, um eine Abhängigkeit von Moskau zu verhindern. Zudem liefert Russland an potenzielle Verbündete wie Venezuela, Bolivien und Argentinien, auch Mexiko und Nicaragua sind bald an der Reihe. Mit Lieferungen nach Ungarn und Serbien dringt es darüber hinaus in den Machtbereich der EU ein, ebenso wie China: Am 16. Januar kamen eine Million Impfdosen der chinesischen Sinopharm in Belgrad an. »Serbien ist Europas schnellstes Impfland, weil es Vakzine aus China und Russland nutzt«, warnt die »Welt«. »Droht ein Dominoeffekt?«

Damit verschieben sich die Machtverhältnisse in der umkämpften Region Südosteuropa, wo die EU ihr Erweiterungspotenzial und Russland eine Einflusssphäre sieht. Serbien bezieht bereits vermehrt russisches Erdgas, im Herbst 2019 fand das serbisch-russische Manöver »Slawisches Schutzschild« statt. Peking wiederum will die Region als Teil seines Infrastrukturprojekts »Neue Seidenstraße« nutzen. In der ganzen Region blicke man »in der Hoffnung auf größere Investitionen zunehmend nach Asien, vor allem nach China«, so die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).

Darüber hinaus nutzen China und Russland ihre Impfstoffe, um Entwicklungs- und Schwellenländern an sich zu binden. Während die EU ihren eigenen Vakzin-Mangel beklagt, liefert China nach Brasilien, Ägypten und in die Türkei. Länder wie die Vereinigten Arabischen Emirate oder die Seychellen, die in der globalen Impfstatistik ganz vorne liegen, verlassen sich auf Sinopharm. Gegen den chinesischen Einfluss wehrt sich wiederum die Pharma-Weltmacht Indien, wo Astra-Zeneca die niedrigen Lohnkosten zur Produktion nutzt. Zunächst hatte New Delhi den Export von Impfstoffen verboten. Doch nun werden Nepal und Bangladesch beliefert, um im regionalen Machtkampf gegen China die eigene »soft power« zu demonstrieren, zitiert die Website »German Foreign Policy« das Institute of South Asian Studies in Singapur.

Die EU unternimmt daher nun einen neuen Anlauf, um Abhängigkeiten von anderen Staaten zu vermeiden und dadurch gleichzeitig Abhängigkeit von sich zu stiften. Diese Woche beschloss sie eine Strategie, um innerhalb der kommenden zwei Jahre bei der Produktion von Impfstoffen gegen das Coronavirus vollkommen unabhängig werden und zudem »auch den Rest der Welt mit Impfstoffen versorgen zu können«, so die Kommission. Dafür sollen gezielt Hilfen eingesetzt werden, die bereits bei der Förderung der Produktion von Elektrobatterien oder Wasserstoffprojekten gewährt werden.

Die Reputation

Mit Ausnahme von Astra-Zeneca sind Hersteller aus westlichen Industrieländern in Entwicklungs- und Schwellenländern derzeit praktisch nicht präsent. Folge: »Das weltweite Ansehen Chinas wächst«, so die »Zeit«. Und die »FAZ« warnt davor, dass Wladimir Putin aus Sputnik V »politisches Kapital schlägt«. Dass es der EU ebenfalls um politisches Kapital geht, erkennt man an der Warnung, sie riskiere »derzeit ihre Reputation in technokratischer Kompetenz, nährt damit Euro-skeptische Stimmen und schade ihrem Ruf in der Welt«, so Ferdinando Giuliano auf dem Finanzportal Bloomberg.

Und schließlich geht es beim Impfstoff nicht nur um den Ruf von Staaten, sondern auch um den des westlichen Modells. Als Biontech vor ein paar Monaten als erstes Unternehmen einen Corona-Impfstoff präsentierte, feierte die von Unternehmen finanzierte Denkfabrik INSM dies als »Erfolg unseres Wirtschaftssystems«, zu dem »unternehmerische Freiheit und weitsichtige Investoren« verholfen hätten. Getrübt wird dieses Bild dadurch, dass Sputnik V vom staatlichen Gamaleja-Insitut für Epidemiologie in Moskau entwickelt wurde, finanziert vom russischen Staatsfonds RDIF. Und auch die chinesische Sinopharm wird vom Staat kontrolliert

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