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Check mal deine Privilegien

Beim digitalen Distanzunterricht werden ärmere Schüler abgehängt

  • Marina Mai und Rainer Rutz
  • Lesedauer: 3 Min.

Schulen öffnen - aber nicht für den Regelbetrieb, sondern um Kindern und Jugendlichen sichere Räume für ein selbstbestimmtes Lernen und die Freizeit anzubieten: Mit dieser Forderung zogen am Freitagnachmittag rund 50 Schüler*innen und eine Handvoll älterer Aktivist*innen vom Alexanderplatz aus einmal im Karree zur nahen Senatsbildungsverwaltung. Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) solle sich endlich von ihrer absurden Prüfungs- und Leistungsfixiertheit verabschieden, sagte Nikola Stanojevic von der Antikapitalistischen Schüler*innen-Truppe, die die Demonstration auf die Beine gestellt hatte, mit Blick auf das an diesem Montag beginnende zweite Schulhalbjahr. »Das von Scheeres abgefeierte schulisch angeleitete Lernen von zu Hause funktioniert nur für Schüler*innen mit den notwendigen Privilegien.« Viele andere, so der Schulsprecher der Robert-Jungk-Oberschule in Wilmersdorf, würden hingegen auf der Strecke bleiben.

In dieser Hinsicht besonders schwer haben es nicht zuletzt Schüler*innen, die in Flüchtlingsunterkünften leben. »Sie beherrschen die Sprache nicht, und sie wohnen unter beengten Verhältnissen«, berichtet Alexander Straßmeir, Präsident des Landesamtes für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF). Einem Kind stehen in einer Flüchtlingsunterkunft per Gesetz nur sechs Quadratmeter Wohnraum zu. Es wohnt also in einem einzigen Zimmer mit der Familie, in dem eventuell auch kleinere Geschwister herumtollen und die Eltern online am Deutschunterricht teilnehmen. In einer solchen Situation am Distanzlernen teilzunehmen, ist mehr als schwierig. Die Gemeinschaftsräume in den Unterkünften können die Situation zwar entschärfen, aber auch davon gibt es zu wenige.

Das LAF wollte wissen, ob Flüchtlingskinder überhaupt auf Onlinelernangebote zurückgreifen können und hat dazu eine Umfrage gemacht. Teilgenommen haben 51 von insgesamt 78 Unterkünften. Nur 20 Prozent der hier wohnenden 4043 schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen haben von ihren Schulen einen Laptop oder ein Tablet erhalten. Darüber hinaus gibt es einige Schüler*innen, die auf digitale Endgeräte zurückgreifen können, die entweder die Eltern in Eigeninitiative angeschafft haben oder aber die Unterkünfte als Spenden oder Leihgaben erhalten haben. Diese Zahl ist statistisch nicht erfasst. Aber klar ist: Es gibt eine erhebliche Zahl von Kindern, die nicht am Onlinelernen teilnehmen können.

Das Problem wird dadurch verschärft, dass nicht alle Unterkünfte über eine ausreichende Internetverbindung verfügen. Zwar hat das LAF in den letzten Monaten deutlich nachgerüstet, so dass inzwischen in über 70 Prozent der Unterkünfte WLAN in den Bewohnerzimmern vorhanden ist. Gerade in älteren Gebäuden seien aber noch erhebliche Investitionen nötig, sagt Straßmeir. Dort gebe es WLAN lediglich in den derzeit besonders stark nachgefragten Gemeinschaftsräumen. Und wenn die Internetleitungen schwach sind, fällt es öfter mal zusammen.

»Die Ausgabe eines digitalen Endgerätes reicht leider nicht aus, um die Kinder für das Homeschooling fit zu machen«, sagt Karen Windhorst vom Flüchtlingsunterkunftbetreiber Hero Zukunft. »Dazu muss eine soziale Betreuung treten.« Die Eltern müssten mitgenommen werden, damit sie verstehen, dass auch Onlinelernen Schule ist. Und von den Schüler*innen kommen allenfalls diejenigen mit dem Digitallernen gut zurecht, die vorher schon fit waren. Trotzdem müssten auch sie oft auf Drucker zugreifen, die nur in den Büros der Mitarbeiter*innen stehen. Die soziale Betreuung hat aber ihre Grenzen, wenn in einem Heim für 400 Bewohner*innen nur eine einzige Kinderbetreuerin angestellt ist. Dass die Betreuung in den Wohnheimen begrenzt sei, mussten auch die Schulen erst lernen.

Noch deutlich schlechter stehen Kinder da, die in Unterkünften wohnen, in die die Familien von den Bezirken eingewiesen werden. In vielen dieser Heime gebe es weder Sozialarbeit noch Gemeinschaftsräume, von einem Internetzugang ganz zu schweigen. Da nützen auch die Tablets nichts, die die Bildungsverwaltung über die Schulen verteilen ließ.

Umso wichtiger wäre es, dass die Schulen wieder öffnen, findet Schüler*innen-Aktivist Nikola Stanojevic. »Aber eben als Freizeit- und freiwilliger Arbeitsraum, nicht als stumpfe Leistungsfabrik.«

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