In drei Wellen auf die Inseln

Mit genetischen Analysen auf der Suche nach den Ursprüngen der ersten Siedler in der Karibik.

  • Andreas Knudsen
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Großen und Kleinen Antillen markieren die Grenze zwischen dem amerikanischen Mittelmeer und dem Atlantik. Ihr langgestreckter Bogen lädt geradezu ein zu Entdeckungs- und Besiedlungsfahrten entlang der Inselkette. Der Blick auf die Karte suggeriert, die ersten Siedler auf den Antilleninseln müssten entweder von Florida aus oder vom heutigen Venezuela aus gekommen sein. Doch linguistische, archäologische und genetische Untersuchungen widersprechen dieser schlichten geografischen Logik. Mehr Klarheit brachte die Analyse der Genome einstiger Inselbewohner durch eine Forschergruppe von der Harvard University unter Leitung von David Reich und eines internationalen Teams um Kathrin Nägele vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena. Sie hatten dazu genetisches Material von 263 Individuen untersucht, die in präkolumbianischer Zeit in Kuba, den Bahamas, der Insel Haiti, den Kleinen Antillen sowie auf Curaçao gelebt hatten.

Einig sind sich die Forscher der drei genannten Disziplinen darüber, dass die Inseln als letzte Gebiete beider Amerikas besiedelt wurden und dass die Menschen in drei Wellen dort eintrafen. Angesichts der riesigen Landflächen beider Kontinente war es lange unnötig, hochseetüchtige Boote zu bauen, so dass erst vor etwa 6000 Jahren die ersten Menschen in Kuba an Land gingen. Lange wurde von Archäologen vermutet, dass die ersten Gruppen vom Norden her kamen. Neuere Analysen mit verbesserten Methoden, unterstützt von Steinwerkzeug-Funden, die auf verwandte Kulturen deuten, kamen jedoch zu dem Schluss, dass die ersten Einwanderer eher von Westen, von der Halbinsel Yukatan, kamen. Dies setzt Kenntnisse zum Bau seetüchtiger Boote und der Navigation auf Hoher See voraus. Bootsreste sind bisher nicht gefunden worden, aber nichtsdestotrotz lebten Nachfahren dieser Einwanderer, die Guanahatabey, Macorí und Ciguayo, noch zur Zeit der Ankunft der Spanier in der Gegend von Pinar del Rio in Kuba und an der Nordküste von Haiti.

Eine weitere Einwanderungswelle kam vor etwa 3000 Jahren von Süden her. Dies waren die Vorfahren jener Menschen, die die Spanier später als »Taino« bezeichneten. Süden ist in diesem Zusammenhang ein dehnbarer Begriff. Linguisten und Archäologen sehen auf Grundlage sprachlicher Rekonstruktionen und von Vergleichen der Werkzeuge und zeitlich jüngerer Keramik das Delta des Orinoko und benachbarte Gebiete im heutigen Guayana als Urheimat dieser Einwanderer an. Genetiker tippen nach Vergleichen der Genome aus Skeletten, die auf Kuba, der Dominikanischen Republik und Curaçao gefunden wurden, eher auf die Nordküste Südamerikas zwischen Maracaibo-See und Orinoco-Delta. Erste Station könnte die Insel Curaçao gewesen sein. Dafür sprechen auch die vorherrschenden Strömungen und Winde sowie die Lage einzelner Inselchen. Das Alter der meisten genau datierten archäologischen Fundstellen deutet darauf hin, dass die zweite Einwanderergruppe zunächst die Großen Antillen besiedelte und die zahlreichen Windward und Leeward Inseln sozusagen rechts liegen ließen. Nur intensivere archäologische Erforschung der Kleinen Antilleninseln kann die Frage der Wanderungsrichtungen klären.

Sicheres Wissen gibt es erst über die Ankunft der letzten Gruppe der vorspanischen Einwanderer. Ihre Wanderung begann vor rund 1200 Jahren im Orinoco-Delta. Von da aus besiedelten sie die Kleinen Antillen. Die spanischen Eroberer beschrieben sie als blutrünstige und menschenfressende Kariben - das Wort Kannibale ist davon abgeleitet. Möglicherweise gab es Rituale, bei denen Menschenfleisch verzehrt wurde, aber im wesentlichen waren die Beschreibungen der Spanier eher der Vorwand der Sklavenjagd. Diese war nach den Regeln der spanischen Krone nur erlaubt, wenn die Opfer Widerstand gegen die Kolonisation leisteten oder eben Kannibalen waren. Sprachlich und genetisch entfernt verwandt mit den Taino teilten sie viele kulturelle Züge mit ihnen und kämpften in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts gemeinsam mit ihnen gegen die Spanier.

Reichs Forschergruppe konnte mit ihren Untersuchungen zeigen, dass keine der ursprünglichen Einwanderungswellen aus Nordamerika in die Karibik kam. Überdies erwies sich, dass die Taino- und Karibengruppen keinesfalls aus Mittelamerika gekommen waren. Und die jüngeren Einwanderungsgruppen scheinen sich genetisch auch kaum mit den ersten Ankömmlingen vermischt zu haben. Die Genetik bestätigt damit spanische Berichte, wonach die Taino mit Verachtung auf die ersten Siedler schauten, die weder Keramik noch Landwirtschaft beherrschten.

Es zeigte sich auch, dass die geografisch weit voneinander entfernten Taino- und Karibenvölker genetisch eng verwandt waren. Aus den Verwandtschaftsverhältnissen zwischen einstigen Bewohnern von Haiti und Puerto Rico schlussfolgert Reichs Team, dass auf beiden Inseln zu Kolumbus‘ Zeiten nur zwischen 10 000 und 50 000 Menschen lebten, nicht, wie in den Aufzeichnungen der Spanier berichtet, Hunderttausende, wenn nicht Millionen Taino. Dieser Widerspruch könnte mit Übertreibungssucht seitens Kolumbus und der anderen Eroberer erklärt werden, um die Inseln attraktiv zu machen für die spanische Kolonisation. Das schnelle Ende der Taino als selbstständige Gruppe kaum 30 Jahre nach Ankunft der Spanier wäre mit den kleineren Zahlen leichter erklärbar. Heute kann ungefähr ein Drittel der Bevölkerung Kubas, Puerto Ricos und der Dominikanischen Republik die Abstammung teilweise auf Ureinwohner der Karibik zurückführen. Die genetische Untersuchung stützt damit das Wiederaufleben der Identität als Neo-Taino- und Neo-Kariben, die insbesondere in Puerto Rico, aber auch auf anderen Inseln zu beobachten ist.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -