Das wahre Ende der Franco-Diktatur

Schriftsteller Javier Cercas über Spaniens Demokratie 40 Jahre nach dem Putschversuch

  • Isabella Caldart
  • Lesedauer: 7 Min.

Sie beschreiben in Ihrem Buch »Anatomie eines Augenblicks« über den Putschversuch in Spanien am 23. Februar 1981, dass eine Geste Sie dazu inspirierte, zunächst einen Roman zu verfassen, aus dem später dieses romanartige Sachbuch wurde: Ministerpräsident Adolfo Suárez, Vizepräsident Manuel Gutiérrez Mellado und der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Santiago Carrillo blieben auf ihren Plätzen im Parlament sitzen, während die Kugeln der Putschisten um sie flogen. Was hat Sie an dem Moment so interessiert, dass Sie sich dermaßen in dieses Thema vertieft haben?

Als ich anfing, das Buch zu schreiben, wusste ich nicht, warum ich so daran interessiert war. Ein Schriftsteller arbeitet mit Obsessionen. Ich war wie besessen von diesem Augenblick. Ich habe ihn nicht verstanden. Für einen Schriftsteller ist das, was er nicht versteht, viel wichtiger als das, was er versteht. Nachdem ich vier Jahre an diesem Buch gearbeitet hatte, verstand ich schließlich, warum ich davon so fasziniert war. Es ist der entscheidende Moment in der Geschichte von Adolfo Suárez und in der Geschichte Spaniens. In diesem Moment endet die Transición (Bezeichnung für den Übergang von der Diktatur in die Demokratie, Anm. d. Red.) und beginnt die Demokratie in Spanien.

Javier Cercas

Der Schriftsteller Javier Cercas wurde 2002 mit dem Roman »Soldaten von Salamis« bekannt. In seinem Roman »Autonomie eines Augenblicks« widmet er sich dem Putschversuch in Spanien vom 23. Februar 1981. Am 28. Juli erscheint sein Thriller »Terra Alta« im S. Fischer Verlag, der in der Unterwelt Barcelonas spielt. Mit ihm sprach Isabella Caldart.

Wieso beginnt die Demokratie in Ihren Augen am 23. Februar 1981 und nicht etwa mit Francos Tod am 20. November 1975 oder am 29. Dezember 1978, als die neue Verfassung in Kraft trat?

Das ist symbolisch. Die Demokratie kann in vielen Momenten verortet werden. Für mich war dies der Schlüsselmoment, als diese drei Männer, die nicht an die Demokratie glaubten - Gutiérrez Mellado, ein franquistischer General, der mit Franco in den Krieg gezogen war, Santiago Carrillo, ein kommunistischer Führer, der viele jahrelang Stalinist gewesen war, und Adolfo Suárez, der letzte Generalsekretär der faschistischen Einheitspartei -, beschlossen, ihr Leben für die Demokratie zu riskieren. Das war für mich das Ende der Diktatur und somit auch das Ende des Bürgerkriegs (1936-1939), der keine drei Jahre dauerte, wie in den Geschichtsbüchern steht, sondern 43 Jahre, da die Diktatur die Verlängerung des Bürgerkriegs auf andere Weise war.

Adolfo Suárez hatte sich überall Feinde gemacht, in der eigenen Partei, bei den Francotreuen, den Sozialdemokraten, dem Klerus und dem Militär. Warum fand der Putsch ausgerechnet an Suárez’ letztem Tag statt, an dem Tag, als sein Nachfolger gewählt werden sollte?

Suárez war die Verkörperung der Demokratie. Diese drei Persönlichkeiten, die sitzenblieben, nenne ich Helden des Verrats. In den Augen der ihren sind sie große Verräter. Gutiérrez Mellado war der Verräter der Armee, weil er franquistischer Militär war, später aber die franquistische Armee zerschlug, um sie in eine demokratische Armee zu verwandeln. Die Armee hasste ihn abgrundtief. Santiago Carrillo war natürlich der große Verräter des Kommunismus. Und Suárez war der größte Verräter von allen. Seine Ernennung zum Ministerpräsidenten wurde von den Franquisten beklatscht, weil er selbst Franquist war, dazu jung und gut aussehend, wie Kennedy. Dieser Kerl leistete dann Unglaubliches, indem er die Diktatur beseitigte und die Grundlage für die Demokratie mit freien Wahlen schuf. Er wurde zum Symbol der Demokratie, deswegen hasste man ihn. Es war ein Putsch gegen Suárez.

Sie schildern in »Anatomie eines Augenblicks«, dass es in der Bevölkerung, die den Putschversuch live im Radio verfolgte, keinerlei Reaktion gab, um für die Demokratie einzustehen. Wie kam das?

Ist das der schwierigste Teil des Buches? Wahrscheinlich, aber auch der naheliegendste, denn es ist offensichtlich, dass es keine Reaktion in der Bevölkerung gab. Dafür gibt es mehrere Erklärungen. Eine Erklärung ist die Angst. An dem Tag, an dem Schüsse fallen, weiß jeder, dass das ein Putsch ist. Die Leute haben Angst und bleiben in ihren Häusern, denn sie erinnern sich an den Bürgerkrieg und keiner will, dass sich das wiederholt. Der andere Grund ist sehr wichtig. In jener Zeit gibt es mehr Terroranschläge als je zuvor, es herrscht eine Wirtschaftskrise, die Regierung ist völlig überfordert. Die Menschen hatten eine sehr naive Vorstellung davon, was die Demokratie mit ihnen machen würde. Sie dachten, die Demokratie würde sie so gut aussehend und reich machen wie Brad Pitt und Angelina Jolie. Was einfach nicht geschah. Eine Demokratie ist nur ein System zur Lösung unserer Probleme. Es gab eine große Ernüchterung, und deswegen hielt sich alle Welt während des Putsches zurück. Viele Leute waren sauer auf mich, weil ich das geschrieben hatte.

Sie haben fast Ihr ganzes Leben in Katalonien verbracht. In welchem Zustand ist Ihrer Meinung nach die spanische Demokratie denn heute, vor allem mit Blick auf die Unabhängigkeitsbewegung?

Wissen Sie, was in Spanien passiert, unterscheidet sich nicht sehr von dem, was in anderen westlichen Ländern geschieht, es hat nur andere Nuancen und Formen. Es gab 2008 eine dramatische Wirtschaftskrise, die nur mit der von 1929 vergleichbar ist. Die von 1929 verursachte Aufstieg und Konsolidierung des Faschismus oder Totalitarismus in Europa. Natürlich sind der deutsche Nationalsozialismus, der italienische Faschismus und der spanische Falangismus nicht genau das Gleiche, aber sie entstanden aus einer gleichen Reaktion. Und im Jahr 2008 führte die Krise zur Festigung des nationalen Populismus im gesamten Westen. Die Geschichte wiederholt sich nie genau, aber sie wird mit einer neuen Maske wiederholt. Der nationale Populismus ist die postmoderne Maske des Faschismus und Totalitarismus. Die sichtbarste Manifestation dessen ist Donald Trump. Aber in jedem Land hat sich das auf unterschiedliche Weise ausgeprägt, die Rückkehr der Neonazis in Deutschland, Salvini in Italien, der Brexit - und in Spanien ist der katalanische Separatismus unsere Form des nationalen Populismus.

Viele Linke, auch in Deutschland, sehen in der katalanischen Unabhängigkeitsbestrebung eine linke Bewegung …

Sie ist zutiefst reaktionär. Es ist unglaublich, dass die europäische Linke das nicht versteht. Die Bewegung ist reaktionär, unterstützt von der Oberschicht, zutiefst antidemokratisch und zutiefst nationalistisch. Und die Linke ist per Definition internationalistisch. An der Oberfläche wirkt die Unabhängigkeitsbewegung demokratisch, denn das ist eine der Formen, die der nationale Populismus angenommen hat. Er hat verstanden, dass die Demokratie nicht direkt und mit Gewalt angegriffen werden sollte. Die Demokratie wird im Namen der Demokratie angegriffen. Das ist der Schlüssel. Den Angreifern auf das Kapitol sagte Trump auch, sie würden die Demokratie verteidigen. Das Referendum in Katalonien war ein Fake-Referendum beziehungsweise kein Referendum, sondern ein Putschversuch. Ein postmoderner, der nicht mit Panzern durchgeführt wird. Es gibt mehr Katalanen, die keine Independentistas sind, als jene, die für die Unabhängigkeit sind. Das Problem besteht auch nicht zwischen Katalonien und Spanien, es ist vielmehr ein innerkatalanischer Konflikt.

Da Sie Trump erwähnen: Kann man den Sturm auf das Kapitol mit dem 23-F vergleichen?

Der Vergleich zwischen 23-F und dem Angriff auf das Kapitol ist sehr oberflächlich. Tiefer geht der Vergleich mit dem, was 2017 in Katalonien passiert ist (rund um einseitiges Unabhängigkeitsreferendum und -erklärung, Anm. d. Red.). Denn in beiden Fällen waren es die Herrschenden, die unter Täuschung eines Teils der Bevölkerung, der sich täuschen lassen wollte, versuchten, die Institutionen im Sturm zu erobern. Das sind postmoderne Staatsstreiche, die auf Lügen beruhen, wie auch der Brexit. Mit Lügen untergrub Trump vier Jahre lang die Demokratie. Diejenigen, die das Kapitol stürmten, glaubten, dass sie die Demokratie retten würden, genauso wie diejenigen, die die Stimmen am 1. Oktober (2017 in Katalonien, Anm. d. Red.) schützen wollten, glaubten, sie würden die Demokratie retten. Sie versuchten, ihren Mitbürgern etwas aufzuzwingen, was die Hälfte der Mitbürger gar nicht wollte, und das alles ohne Legitimität. Hüten Sie sich vor den Putschen, die kommen werden, vor diesen neuen Putschen, den postmodernen.

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