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Der freie Wind

Nach 30 Jahren entdeckt eine junge Generation die Musicals und Operetten der DDR neu. Sie waren der Soundtrack zum Leben ihrer Eltern

  • Kevin Clarke
  • Lesedauer: 5 Min.

Ignoranz ist eine besonders unangenehme Art von Arroganz», sagte im Februar 2020 die Diva-im-Ruhestand Maria Mallé. Als Ex-Ensemblemitglied des Metropoltheaters moderierte sie an der Semperoper Dresden ein Konzert in der Reihe «Musikszene DDR». Es war dem sogenannten Heiteren Musiktheater gewidmet und jenen Werken, die hinterm Eisernen Vorhang neu entstanden.

Es waren dies Werke, die für eine «Vergegenwärtigung» der Gattung Operette standen, der das «reaktionäre Potenzial» und der «nostalgische Charme» ausgetrieben werden sollte. Vielleicht war das der Grund, warum sich die Wohlfühloperettenszene im Nachkriegs-Westen für solche Entwicklungen nicht interessierte, da es um Themen ging, die man in der BRD in Bezug auf Operette kategorisch ausblendete: Kapitalismus- und Rassismuskritik, Antifaschismus, Gendergerechtigkeit usw. Dass die dabei entstandene neue Musik von Gerd Natschinski, Guido Masanetz, Gerhard Kneifel, Conny Odd, Herbert Kawan, Rolf Zimmermann u.a. für viele den Soundtrack für ganze Lebensabschnitte lieferte, tun bis heute viele im Westen als «unwichtig» ab. Nach dem Motto: Kenn‘ ich nicht, interessiert mich nicht. Auf eben diese Ignoranz bezog sich Mallé.

Die cirka 200 zeitgenössischen Werke, die zwischen 1949 und 1989 als Operetten und später Musicals in der DDR geschaffen wurden, entsorgte man nach der Wende umgehend. So als seien sie toxisch. Als im wiedervereinten Deutschland 1991 der wegweisende Operettenführer von Volker Klotz herauskam, wurde die DDR nicht einmal in einer Fußnote erwähnt. Und das, obwohl der Klotz’sche Schlachtruf «Liberté, Égalité, Fraternité» lautete, mit dem er Werke in «gut» und «schlecht» einteilte. Gut waren Stücke, die die Obrigkeiten verlachten und die Utopie einer besseren Gesellschaft heraufbeschworen. Dass das ein zentrales Thema aller in der DDR entstandenen Werke des Heiteren Musiktheaters war, ebenso in denen, die aus sozialistischen Nachbarländern importiert wurden, wie z.B. «Die rote Karawane: Leben und Traum der Zigeuner» von Béla Szakcsi-Lakatos und Géza Csemer oder «Freier Wind» von Isaak Dunajewski, blendete Klotz aus. Für ihn gab es die DDR und den gesamten Ostblock nicht.

Als 2020 der «Cambridge Companion to Operetta» erschien, endet die deutschsprachige Operettengeschichte mit den Nazis. Aber es war erstmals ein Kapitel zur Operette in Russland und der UdSSR enthalten. Die Herausgeber Anastasia Belina und Derek B. Scott hatten schon 2019 eine Konferenz in Leeds organisiert, bei der mehrere Forscher aus Ungarn, Tschechien und Deutschland sich mit den Entwicklungen des Genres unter sozialistischen Regimen beschäftigten. Sie stellten das Thema einem staunenden internationalen Fachpublikum vor. Und nun ist ein 236-Seiten-Sammelband erschienen, der noch weiter gefasst «Popular Music Theatre under Socialism» analysiert.

Dass sich Herausgeber Wolfgang Jansen entschlossen hat, die 13 Aufsätze auf Englisch zu veröffentlichen, kann man begrüßen. US-Theaterwissenschaftler David Savran, der derzeit in Berlin an einem Buch über Musicals in Deutschland arbeitet, sagt zu dieser Zeitung: «Das osteuropäische populäre Musiktheater ist für die meisten englischsprachigen Forscher terra incognita, obwohl andere Bereiche wie Asien und Afrika neuerdings viel Aufmerksamkeit bekommen. Jetzt, wo 1989/90 so weit hinter uns liegt, dass wir diese Werke als mehr sehen können als pure Propaganda, eröffnet sich eine goldene Gelegenheit. Die Stücke gehören zum westlichen Kulturkanon, gleichzeitig aber auch nicht. Das auszuloten öffnet Fenster!» Die könnten allerdings schnell wieder zuklappen. Denn Jansen ist ein Malheur passiert: Die englische Übersetzung einiger Texte ist so schlecht, dass die Lektüre teils peinigend ist.

Behandelt werden die Sowjetunion, Ungarn, DDR, Polen, Tschechoslowakei und Rumänien, dazu gibt’s eine kurze Einleitung, in der auch Jansen betont, dass es sich um «weitgehend unbekanntes Territorium» handle. Dass liegt u.a. daran, dass zwar von allen großen DDR-Werken Schallplattenaufnahmen gemacht, diese jedoch nie auf CD veröffentlicht wurden. Immerhin haben Do-it-yourself-Aktivisten einige Alben bei YouTube hochgeladen. Das reichlich vorhandene Bildmaterial - teils aus dem Archiv des Metropoltheaters - liegt bei der Stiftung Stadtmuseum Berlin und wurde schon in Büchern wie «›…daß die Musik nicht ohne Wahrheit leben kann.‹ Theater in Berlin nach 1945: Musiktheater» veröffentlicht. Das ist jedoch nur die Spitze des Eisbergs.

Vor allem eine nachrückende Generation scheint sich mit neuer Begeisterung mit der sozialistischen Vergangenheit auseinandersetzen zu wollen, mit all ihren Widersprüchen - vielleicht befeuert durch Erfolgsserien wie «Deutschland 83-89»? Vielleicht aber auch wegen der Erkenntnis, dass ein Friedensbewegungs-Musical wie «Aphrodite und der sexische Krieg», nach dem antiken Anti-Kriegs-Stück «Lysistrata», auch heute etwas zu sagen hat. Oder dass Thomas Bürkholzs Rockmusical «Nacht der Angst» über einen geplanten Anschlag auf eine Disco erschreckend aktuell ist. Vom Rassismus in der USA in Zeiten von Black Lives Matter ganz zu schweigen, was in «In Frisco ist der Teufel los» behandelt wird. Den Missbrauch von Privilegien und die Ausgrenzung von Menschen wegen ihrer sozialen Herkunft greift «Mein Freund Bunbury» auf, der DDR-Bestseller schlechthin.

Es ist das Verdienst des Jansen-Buchs, viele Stücke umfangreich vorzustellen. In Bezug zu den anderen Sparten - den überarbeiteten «Klassischen Operetten» aus dem 19. Jahrhundert und «Klassischen Musicals» vom Broadway - werden die zeitgenössischen Stücke aber nicht wirklich gesetzt. Das ist bedauerlich, denn sie liefen im Repertoirebetrieb neben «My Fair Lady», «Hello Dolly», «Show Boat» sowie Offenbach, Strauss, Millöcker und Lehár. Und warum in den 1980er-Jahren in der DDR plötzlich die «spätbürgerliche Operette», ja sogar Titel aus der Nazi-Zeit ein Comeback feierten, wird gleichfalls nicht thematisiert. Obwohl das viel über die ideologische Leere verrät, die zur Implosion der DDR führte.

Leider gibt’s im Buch kaum Fotos, dafür ein problematisches Coverbild. Denn die Werke, um die es geht, enthalten in der Mehrzahl keine uniformierten Helden der Arbeit, die auf Paraden Fahnen schwenken. Ganz im Gegenteil: viele Autoren setzten die Vorgabe des sozialistischen Realismus deutlich differenzierter um. Angesichts der Fülle der erhaltenen Materialien ist eigentlich eine Ausstellung überfällig: im Stadtmuseum Berlin oder im Deutschen Historischen Museum? Der nun erschienene Sammelband ist hoffentlich nur der Beginn einer umfassenderen Aufarbeitung. Zu der auch das Projekt der Hochschule für Musik und Theater Hamburg zählt. Es heißt «Musikgeschichte online (1945-1990): DDR und BRD» und wird von Dr. Lars Klingberg koordiniert. Die Darstellungsform soll «multimedial, interaktiv, barrierefrei und bilingual» sein. Man darf gespannt sein, wie viel Heiteres Musiktheater sich irgendwann dort finden wird!

Wolfgang Jansen (Hg.): Popular Music Theatre under Socialism. Waxmann Verlag, 236 S., brosch., 34,90 €.

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