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»Linke Bewegungen sind sehr aktiv«

Bewegungsforscher Daniel Mullis über Proteste progressiver Strömungen während der Pandemie

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 7 Min.

Nach mehr als einem Jahr der Corona-Pandemie ist die Krise nicht ausgestanden. Die Stimmung scheint angespannt. Gleichzeitig kann man manchmal den Eindruck bekommen, dass die gesellschaftliche Linke in den öffentlichen Debatten kaum eine Rolle spielt. Teilen Sie diese Einschätzung?

Ich finde nicht. Gewerkschaften, Sozialverbände, aber auch progressive soziale Bewegungen sind durchaus präsent. Wichtig scheint mir, dass sich die Linke insgesamt hinter die Corona-Maßnahmen gestellt hat und die Einschränkungen gutheißt. Damit kommt der einzige fundamentale Widerspruch in Bezug auf die Corona-Politik von Rechtsaußen sowie von Corona-Leugner*innen.

Zur Person
Daniel Mullis ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut HSFK in Frankfurt am Main und aktiv im Institut für Protest- und Bewegungsforschung. Er arbeitet zu sozialen Bewegungen und gesellschaftlicher Regression. 

Können Sie das näher erklären?

Es ist, so glaube ich, in der Linken Konsens, dass »Distanz halten eine Weise des Füreinander-Daseins« darstellt, um es mit der Soziologin Sabine Hark zu sagen. Grundlegend wird daher kaum widersprochen, Kritik zielt eher auf einzelne Aspekte. Angesprochen werden Fragen der sozialen Gerechtigkeit, der Ausübung von Grundrechten, der Verteilung der Kosten oder welche Sektoren die zentrale Last des Lockdowns zu tragen haben. Dies steht in scharfem Kontrast zu den rechtsoffenen Protesten etwa von Querdenken, die in ihren Handlungen die kollektive Verantwortung für Gesellschaft und verletzliche Gruppen negieren.

Sind die Proteste von Querdenken und der extremen Rechten derzeit erfolgreicher als die von linken Bewegungen?

Auf die Regierungsentscheidungen haben sie zum Glück kaum Einfluss. Aber sie sind sehr sichtbar und dies aus drei Gründen: Erstens, weil sie sich grundlegend gegen die Corona-Politik stellen. Zweitens, weil sie sehr bewusst die geltenden Schutzregeln missachten und vor Gewalt nicht zurückschrecken. Und drittens, weil der Fokus auf solche regressiven Proteste nicht neu ist.

Inwiefern?

Zumindest seit Pegida gibt es dieses Narrativ der »besorgten Büger*innen«, das vor allem rechte Positionen, Rassismus und Ressentiments in den Bereich des Sagbaren holt. Menschen, die hingegen gegen Sozialabbau, gesellschaftliche Ausschlüsse, Prozesse der Entdemokratisierung oder Rassismus auf die Straße gehen, werden nicht in gleicher Weise als besorgt betrachtet. Dies sehen wir aktuell wieder, wenn sich etwa der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer mit Corona-Leugner*innen trifft, um deren Position zu verstehen. Man sollte das aber nicht unmittelbar in Beziehung zum Erfolg linker Politik setzen.

Nicht?

Nein, linke Bewegungen waren und sind trotz der Pandemie im Rahmen des Möglichen sehr aktiv. Wir haben beispielsweise Proteste gegen die Zustände in den Flüchtlingslagern gesehen. Protestiert wurde für einen würdigen Schutz von Obdachlosen sowie gegen Mietsteigerungen in der Pandemie. Nicht zuletzt sind auch die anhaltenden Klimaproteste sowie die antirassistischen Mobilisierungen im Zusammenhang mit Black Lives Matter sowie mit den Morden in Hanau zu nennen. Die Frage lautet, ob diese linken Bewegungen einen politischen Resonanzraum finden. In gewissen Bereichen passiert das, wenn auch sehr langsam. In der Klimapolitik ist etwas in Bewegung gekommen, Rassismus wird zumindest zaghaft als Problem der Mehrheitsgesellschaft diskutiert, und auch in Sachen Sozialpolitik sehe ich positive Ansätze. Wir haben also eine Gleichzeitigkeit von progressiven Erfolgen und einem Erstarken der extremen Rechten. In den Gesellschaftswissenschaften wird deshalb von einer Polarisierung der Gesellschaft gesprochen.

Hätte die außerparlamentarische Linke in der Coronakrise mit einer anderen Strategie mehr Erfolg haben können?

Auffällig ist, dass linke Bewegungen kaum eine Position zur Pandemie entwickelt haben. Der Fokus lag auf den durch Corona vertieften gesellschaftlichen Bruchlinien. Viele Gruppen arbeiteten an den Themen weiter, an denen sie ohnehin dran waren. Einzige Ausnahme bilden aktuell des Bündnis »Wer hat der gibt« sowie die Versuche zur solidarischen Vernetzung in Nachbarschaften im Frühjahr des letzten Jahres. Der inhaltsbezogene Aktivismus wurde im medialen Tagesgeschäft allerdings kaum aufgenommen. Wenn berichtet wurde, dann weniger zu den Inhalten, als über die unsichere rechtliche Lage und das harte Durchgreifen der Polizei. Denn im Frühjahr musste selbst das Recht auf Versammlung vielerorts erst wieder erstritten werden.

Was wäre möglich gewesen, wenn eine linke Position zu Corona früher entwickelt worden wäre?

Schwer zu sagen. Gerade mit dem Erstarken von Querdenken wurde das Dilemma aber sichtbar. Die rechtsoffenen Proteste sollten nicht unwidersprochen bleiben, gleichzeitig mangelte es an einer dezidiert linken Perspektive zum Umgang mit der Krise. Der Gegenprotest blieb so etwas inhaltsleer. Hier hat der Zero-Covid-Aufruf eine Leerstelle gefüllt - wenn auch nun um den Inhalt gestritten wird.

Wie ist der Aufruf zu bewerten?

Zunächst macht er eine wichtige diskursive Setzung: Er sagt, dass es einen Ausweg aus der Krise durch eine solidarische Lösung geben kann; dass nicht alle von der Pandemie gleich betroffen sind; und dass die Kontaktbeschränkungen auch in der Lohnarbeitswelt durchgesetzt werden müssen. Er fordert eine solidarische globale Verteilung von Impfstoffen anstelle des aktuellen Wettlaufs um die knappen Vakzine. An was es dem Aufruf meines Erachtens jedoch fehlt, ist eine Antwort auf die Frage, wie die angemahnte solidarische Praxis hierzulande aber auch aus globaler Perspektive konkret aussehen könnte.

Es mangelt an Ideen zur Durchsetzung?

Ein solidarischer Lockdown von unten müsste durch soziale Beziehungen getragen werden, die gegenseitige Hilfe vor Ort sowie zwischen Staaten sicherstellen. Hier lässt der Aufruf vieles offen. Beziehungsweise ist er von einem an die Regierenden appellierenden Charakter geprägt. Diese Lücke birgt die Gefahr, dass von den politischen Entscheidungsträger*innen nur der Ruf nach einem harten Lockdown vernommen wird, die Punkte zur solidarischen Bewältigung aber ignoriert werden. Ich würde dem Aufruf selbst keinen autoritären Gestus unterstellen, glaube aber, dass er auf Grund seiner Form autoritäre Züge in der Krisenbearbeitung zu stärken droht.

Wie groß ist die autoritäre Gefahr?

Das Autoritäre funktioniert hierzulande subtil. Es bleibt aber erschreckend, wie einfach zu Beginn der Pandemie Grundrechte außer Kraft gesetzt wurden und wie weit Polizeibehörden ihre Spielräume auslegten. Festzumachen sind autoritäre Elemente jedoch auch in der politischen Rhetorik. Bürger*innen werden eher drohend angesprochen und der vermeintliche Mangel an Vernunft soll mittels Zwangs durchgesetzt werden. Eine demokratische Praxis hätte stattdessen darauf gesetzt, Menschen stärker mitzunehmen, ihnen Handlungsmacht in der schwierigen Situation zu geben und eine gemeinsame Perspektive zu entwickeln.

Der Zero-Covid-Aufruf will ja den Menschen Handlungsmacht für einen solidarischen Lockdown geben. Hätten die linken Bewegungen denn die Möglichkeit, diesen etwa über Streiks zu initiieren?

Zentrale Formen der Mobilisierung von sozialen Bewegungen wie etwa Stadtteilorganisierung, Massenproteste oder Konferenzen sind aktuell kaum möglich. Das erschwert Organisation ungemein. Was Streiks angeht, ist die Lage in Deutschland anders als in Italien, wo es im Frühjahr diesbezüglich erfolgreiche Kampagnen gab. Hierzulande sind politische Streiks jedoch nicht legal. Letztlich ist aber - auch angesichts der Mutationen – unklar, was die Zukunft bringt. Soziale Bewegungen können auch an unerwarteten Orten und unintendiert aufbrechen. So ist durchaus vorstellbar, dass einzelne Spartenkämpfe und Streiks in stark betroffenen Bereichen ausbrechen, die eine Signalwirkung entfalten. Ich bin jedoch skeptisch.

Ein Gedenkbeitrag der Initiative Postmigrantisches Radio zum rassistisch motivierten Terroranschlag in Hanau am 19. Februar 2020

Wer wird von dem Aufruf angesprochen?

Mir scheint, dass der Aufruf deutliche Grenzen hat. Er spricht sicher Menschen an, die in den letzten Monaten problemlos im Homeoffice arbeiten konnten, finanziell abgesichert sind, ein Zuhause haben, in dem es sich ganz gut leben lässt, und die wahrscheinlich auch nur in geringem Maße Betreuungsarbeit leisten müssen. Für viele andere ist nach einem Jahr Pandemie, mit bisweilen massiven Belastungen auf Arbeit und Zuhause - gerade bei Frauen auch in beiden Bereichen gleichzeitig -, der Ruf nach einem harten Lockdown nicht unmittelbar selbsterklärend. Hier bleibt der Aufruf auffällig dünn und füllt die Frage der Praxis in keiner Weise aus. So bleibt der Eindruck, dass für die erstgenannte Gruppe Zero Covid »Nach ein paar Wochen haben wir unser Leben wieder annähernd zurück« heißt. Für die zweite stellt sich hingegen die Frage: »Wie soll diese Zeit zu überstehen sein und wie stehen wir am Ende da?« Der Aufruf kommt womöglich etwas spät.

Vor welchen gesellschaftlichen Herausforderungen steht die gesellschaftliche Linke?

Gesellschaftliche Ermüdungserscheinen werden immer deutlicher. Man hat sich widerwillig an die Einschränkungen gewöhnt und neue Alltäglichkeiten etabliert. Gleichzeitig ist die Situation zermürbend, oft einsam und belastend. Für Bewegungen stellt sich die Frage, wie ein Weg aus der Vereinzelung aussehen kann. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Pandemie kein formales Ende haben wird. Wir stehen vor einer langen Phase der Ungleichzeitigkeit. Zum einen aus globaler Sicht auf Grund des Mangels einer solidarischen Impfstrategie, zum anderen aber auch im ganz Kleinen. Die Sorge davor, andere Menschen zu treffen, sich zu umarmen, verschwinden nicht einfach, selbst wenn es wieder erlaubt sein sollte. Auf einer alltagsweltlichen Ebene stehen progressive soziale Bewegungen vor der großen Herausforderung, soziale Nähe, auch in einem politischen Sinne, wieder herzustellen.

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