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Unser Gedenken ist immer politisch
Deutschland tut sich schwer, angemessen an von Rechten Ermordete zu erinnern
Es gibt so viele verschiedene Möglichkeiten Verstorbener zu gedenken. Manche beten, andere meditieren, wiederum andere feiern Feste im Andenken derer, die gestorben sind. Gedenken und Erinnern ist für viele von uns etwas Persönliches. Intimes.
Gedenken und Erinnern kann aber auch kollektiv geschehen. Und in bestimmten Fällen MUSS es das sogar. Meine Familie gehört einer verfolgten Minderheit an. Jeder Angriff auf einen von uns, war ein Angriff auf uns alle. Denn so funktioniert es, wenn eine Minderheit oder marginalisierte Gruppe angegriffen wird. Jeder Angriff ist eine Botschaftstat. Gemeint sind wir alle. Und selbst im weiten Deutschland trauerten und erinnerten wir kollektiv an die Getöteten. Still wurde für sie gebetet. Möge Gott ihrer Seele gnädig sein.
Dass Gedenken auch politisch und kämpferisch zum Ausdruck gebracht werden kann, lernte ich in den 90er Jahren. Wir erinnern uns an die Attentate, Pogrome und Brandanschläge von Mölln, Solingen, Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda. Denn denke ich an die 90er Jahre, denke ich an die Wiedervereinigung, aber auch Baseballschlägerjahre, rassistische Asyldebatten und den Bundeskanzler Helmut Kohl, der den Begriff »Beileidstourismus« prägte.
Ich denke an 1993. Damals, nach den rassistischen Morden von Mölln und Solingen, gab es Streikaufrufe von selbstorganisierten Initiativen, wie beispielsweise am 2. Juni 1993 in Hamburg. Die »Widerstandsinitiative gegen Rassismus« organisierte einen Streik und eine Kundgebung mit Tausenden, überwiegend migrantischen Menschen vor dem Hamburger Rathaus.
Ich denke aber auch die »Möllner Rede im Exil«, einer Veranstaltung zum Gedenken an die Ermordeten der Brandanschläge von Mölln, die von Hinterbliebenen, Überlebenden und ihren Freund*innen organisiert wird. Gerade einmal vier Jahre war die Möllner Rede Teil des offiziellen Gedenkens der Stadt Mölln. Dass die Familie und die Angehörigen die Redner*innen selbst aussuchen, schien dann aber nicht länger erwünscht. Seitdem findet die Rede im Exil statt. Von Gedenkveranstaltung zu kritischer Bestandsaufnahme - das dies bitter nötig ist, zeigte uns das Jahr 2020 wieder auf beeindruckende Weise, als herauskommt, dass die Stadt Mölln der Familie Arslan über 300 Solidaritätsschreiben vorenthielt, die 1992 nach dem Anschlag eingingen.
Ich weiß nicht, ob es eine steile These ist, aber ich schreibe es einfach aus: Deutschland tut sich schwer, angemessen zu gedenken, weil es nicht mehr gedenken will. An die Shoah. An das Oktoberfestattentat. An die NSU-Morde. An Halle. An den Mord an Walter Lübcke. An Hanau. Und immer wieder wird deutlich: Jede Form von Erinnerung und Gedenken musste und muss von Betroffen, Überlebenden und den Hinterblieben erkämpft werden. Die Dominanzgesellschaft will nur vergessen. Wer will sich schon regelmäßig, jeden Monat, fast wöchentlich, mit dem eigenem Versagen befassen, rechte Strukturen nicht konsequent zu bekämpfen. Erinnern heißt Auseinandersetzung. Erinnern heißt verändern. Und der Dominanzgesellschaft ist nichts daran gelegen, den Normalzustand infrage zu stellen, oder gar ihn zu ändern. Denn wir lesen es immer wieder: Nie wieder.
Erinnern und Gedenken stört sie. Es stört sie, dass Menschen regelmäßig Blumen und Kerzen am Brüder-Grimm-Denkmal in Hanau niederlegen. »Reicht jetzt auch mal langsam«, beschwerten sich einige. Ob diese Menschen auch so sprechen würden, wenn es sie getroffen hätte? Ihre Kinder? Ihre Freund*innen? Wir können uns auf die Solidarität der Dominanzgesellschaft nicht verlassen. Denn wie kann es sein, dass schon am Abend des 19. Februar 2021, genau ein Jahr nach den Anschlägen von Hanau, Gedenkstätten zerstört werden und Hakenkreuze auf Plakaten auftauchen? In Köln. In Frankfurt. In Konstanz. In Göttingen.
Unser Gedenken wird immer politisch sein. Es ist verknüpft an politische Forderungen, denn erst wenn es Konsequenzen gibt, Versagen aufgearbeitet ist und die Hinterbliebenen Antworten auf ihre Fragen bekommen, werden wir Ruhe finden.
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