- Kultur
- »Neue Rheinische Zeitung«
Wider die deutsche Vereinbarungssucht
Zwischen Revolution und Konterrevolution - wie Marx und Engels die »Neue Rheinische Zeitung« führten
Im Herbst 1848 standen im Rheinland die Zeichen auf Sturm. In der Nähe von Köln bekannten sich auf einer spektakulären Kundgebung fast 10 000 Teilnehmer »für die Republik, und zwar für die demokratisch-soziale, für die rothe Republik«. Sogar in Paris wurde darüber berichtet. Die Obrigkeit zeigte sich nicht erfreut. Der Präsident der Kölner Demokraten Hermann Becker und Karl Schapper, Mitarbeiter der »Neuen Rheinischen Zeitung«, wurden verhaftet. Männer der Bürgerwehr verhinderten die Festnahme ihres Kommandeurs, des Juristen Karl Wachter; und Joseph Moll, ein beliebter Arbeiterführer, konnte den Häschern wieder entrissen werden. Friedrich Engels, der auf der Kundgebung gesprochen hatte, sowie einige andere wurden steckbrieflich gesucht.
Als sich die Nachricht von einem Truppenaufmarsch verbreitete, wurden spontan auf und um den Marktplatz Barrikaden errichtet. Der Festungskommandant rief den Belagerungszustand aus. Die oppositionelle »Neue Rheinische Zeitung« und drei andere demokratische Blätter mussten ihr Erscheinen zeitweilig einstellen. Entschieden war noch nichts.
In Berlin tagte die von den (männlichen) Bürgern gewählte Nationalversammlung, die eine Verfassung ausarbeiten sollte, sich aber nicht festzulegen vermochte, ob sie gemäß dem Prinzip der Volkssouveränität frei handlungsbefugt sei. Im Artikel »Die Berliner Krisis« umreißt Karl Marx in klaren Sätzen den Konflikt: Einerseits der König auf der Grundlage seiner »angestammten gottesgnadlichen Rechte«. Auf der anderen Seite die »Nationalversammlung auf gar keiner Grundlage, sie soll [sich] erst konstituiren, Grund legen. Zwei Souveräne!« Und weiter merkt er an: »Sobald die beiden Souveräne sich nicht mehr vereinbaren können oder wollen, verwandlen sie sich in zwei feindliche Souveräne«.
Das war die Ausgangslage, als die »Neue Rheinische Zeitung« Mitte Oktober 1848 wieder erscheinen konnte. Zunächst saßen nur Marx und Georg Werth in den Redaktionsräumen am heutigen Heumarkt, dann kamen Ferdinand Freiligrath und Wilhelm Wolf hinzu. Es gelang, das Renommee der Zeitung deutlich zu steigern. Zuletzt hatte sie eine Auflage von 5600 Exemplaren und war ein deutschlandweit gelesenes Blatt. Dazu kamen noch Beilagen und Extrablätter.
Der neue Band der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) erfasst im Hauptteil 157 und im Anhang fünf Dokumente, darunter 18 Erstveröffentlichungen sowie 40 Texte erstmals in deutscher Sprache. Es sind überwiegend Zeitungsartikel, aber auch die Verteidigungsreden von Marx und Engels vor dem Kölner Geschworenengericht und das Fragment des Reiseberichts »Von Paris nach Bern«, amüsante Beobachtungen und Reflexionen, die einmal mehr Engels’ feuilletonistisches Talent bezeugen.
Was den heutigen Leser vielleicht überraschen dürfte, ist vor allem, dass Marx in der ersten Phase der Revolution von 1848/49 nicht die vorpreschenden Arbeiterakteure unterstützt, sondern - von der Rezeption bisher wenig beachtet - entschieden für das liberale Bürgertum Partei ergreift. Mit Engels engagiert er sich in der eher honorigen Demokratischen Gesellschaft, Marx wird sogar in den Kreisausschuss der rheinpreußischen Demokraten delegiert. Für ihn hat die deutsche Bourgeoisie eine revolutionäre Aufgabe. Sie müsse aufgrund »ihrer veränderten Bedürfnisse« eine »ihrer gesellschaftlichen Stellung entsprechende politische Stellung erzwingen«.
Aber von den sogenannte Märzministerien, die sich ein »liberalbürgerliches Gewand der Contrerevolution umgeworfen« haben, wie Marx schreibt, werden die linken Demokraten von Anfang an enttäuscht. Einer der Hauptangriffspunkte ist die »Vereinbarungstheorie« des Ministeriums Ludwig Camphausen, der zufolge sich die verfassungsgebende Versammlung mit der Monarchie »vereinbaren« sollte. Alle folgenden Ministerien (es gab allein 1848 vier verschiedene Regierungen in Preußen) übertrafen sich in ihrer Unterwürfigkeit vor den Altären der Krone und der feudalen »Kamarilla« - aus Angst vor einem konsequenten Vollzug der Revolution und den sozialen Forderungen der Kleinbürger wie der Arbeiterschaft. Die zur Machtübernahme prädestinierte »große« Bourgeoisie habe »keine Hand gerührt«. »Träg, feig« habe sie »dem Volke erlaubt, sich für sie zu schlagen«. Marx polemisiert auch in einem weiteren Sinn gegen die deutsche Vereinbarungssucht, die in der Folgezeit dazu führte, dass das Land im europäischen Kontext vergleichsweise konservativ geprägt blieb.
In all diesen sich überlagernden, für viele undurchsichtigen Prozessen bleiben die Autoren streng sachbezogen. »Wir haben wiederholt erklärt, daß wir kein ›parlamentarisches‹ Blatt sind und uns daher nicht scheuen, von Zeit zu Zeit den Zorn selbst der äußersten Linken von Berlin und Frankfurt auf unser Haupt zu ziehen«, betont Marx. »Wir erwarten alles von den Kollisionen, die aus den ökonomischen Verhältnissen hervorgehen.« Marx und Engels folgen einer Dialektik des Noch-Nicht und einer Kritik des Immer-Noch. Gerade deswegen sehen sie allein in den auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts zusammengesetzten Nationalversammlungen die rechtmäßige Konstituante. Man muss dabei bedenken, dass Marx und Engels westeuropäisch sozialisiert sind. In der kompromisslosen Ermächtigung der Bourgeoisie, wie sie in England und Frankreich vonstattengegangen ist, sehen sie die einzig zeitgemäße Option für eine moderne Entwicklung der deutschen Teilstaaten. Um später auf dieser Basis eine soziale Revolution oder Transformation zu ermöglichen.
Doch am 9. November 1848 verfügt König Friedrich Wilhelm IV., der »Romantiker auf dem Thron« (D. F. Strauss), dass die preußische Nationalversammlung vertagt und nach Brandenburg verlegt wird. Unter General Wrangel rücken 15 000 Soldaten in die Hauptstadt ein, Belagerungszustand und Kriegsrecht werden erklärt. Weil sich die Parlamentarier weigern, in die Provinz zu ziehen, wird die »Vereinbarerversammlung« am 5. Dezember aufgelöst, und die Monarchie verfügt eine Verfassung nach eigenem Gusto. Ein knallharter Staatsstreich. Die Berliner Abgeordneten bezichtigen daraufhin das Ministerium des vom König eingesetzten Grafen Brandenburg des Hochverrats gegenüber der gewählten »Regierung der Nationalversammlung«. Sie rufen die Bevölkerung auf, keine Steuern mehr zu zahlen. Marx und Engels veröffentlichen diesen Beschluss, die rheinischen Demokraten setzten noch eins drauf: Die gewaltsame Eintreibung von Steuern sei »überall durch jede Art des Widerstandes zurückzuweisen«. Das bringt nunmehr der Zeitung umgehend eine Anklage wegen Hochverrats ein.
Das Gerichtsverfahren findet am 8. Februar 1849 statt. Marx versteht es in seiner Verteidigungsrede, nicht nur die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft gegen die gewählte Volksvertretung zu widerlegen, sondern seine Gesellschaftstheorie des Epochenwechsels darzulegen. Der Kampf zwischen Krone und Volk sei ein »Konflikt zweier Gesellschaften selbst«, der »feudal büreaukratischen« mit der »modernen bürgerlichen«. Die Geschworenen sprechen ihn und die Mitangeklagten frei.
Während der Wahlen zum preußischen Parlament führt Marx dann die stets wörtlich zitierten Argumente der konstitutionell-monarchistischen Partei ad absurdum. Auch hier widerlegen die Dokumente ein bis zum heutigen Tag anhaltendes Missverständnis, nämlich dass er auf Wahlen nichts gegeben habe. Dabei wird Parlamentskritik mit Antiparlamentarismus verwechselt. Marx setzt sich erneut für die liberale (»kleine«) Bourgeoisie und den Mittelstand ein. Die meisten Mitglieder des Kölner Arbeitervereins kann er überzeugen, dass sie die bürgerlich-demokratischen Kandidaten wählen.
Selbstverständlich hatte die »Neue Rheinische Zeitung« nicht nur die deutschen Verhältnisse im Blick. Sie berichtete ausgiebig über die Aufstände in Wien und in Ungarn, über die italienische Revolution und die Transformation des Schweizerischen Staatenbundes in einen Bundesstaat. Es finden sich sogar Betrachtungen über die Wirtschaft in Belgien, das Kreditsystem in Frankreich oder über Panslawismus. Die dominante Persönlichkeit in der Redaktion war unzweifelhaft der gerade mal 30-jährige Marx. Seine mit allerlei historischen und literarischen Anspielungen gespickten Artikel sind brillant geschrieben. Weil damals anonym veröffentlicht wurde, erforderte die Autorisierung der Texte durch die Bandbearbeiter einen enormen Aufwand. Zudem gelang es François Melis, in Moskau das persönliche Exemplar der »Neuen Rheinischen Zeitung« von Marx zu identifizieren. Daran ist ersichtlich, dass der »Redakteur en chef« nicht nur Leitartikel schrieb, sondern zutiefst in den Redaktionsalltag eingebunden war, Korrespondenzen redigierte und Nachrichten platzierte. Work en process. Diese Hinterlassenschaft sich heute anzueignen, da nach wie vor gesellschaftliche Standards ungelöst sind, ist höchst anregend und gewinnbringend.
Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Artikel, Entwürfe Oktober 1848 bis Februar 1849. Band I/8 der Marx-Engels-Gesamtausgabe. Bandbearbeiter Jürgen Herres und François Melis. De Gruyter, 1228 S., geb., 190 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!