Freie Räte - und Freihandel?
Vor 100 Jahren begann der Kronstädter Matrosenaufstand - und ist bis heute ein Streitpunkt unter Linken
In der Festung brodelte es schon seit Langem. Bereits im Januar 1921 waren die Berichte aus der Marinebasis Kronstadt, gelegen an der Ostsee-Insel Kotlin, gut 27 Kilometer vor Petrograd, höchst beunruhigend. Das Verhältnis zwischen den Mannschaften und der Politischen Leitung der Baltischen Flotte war zutiefst zerrüttet, die Matrosen beschwerten sich über etliche Missstände, darunter über Privilegien der Parteifunktionäre, schlechte Versorgung, zu langsame, schleppende Verhandlungen über die Rückkehr ihrer Kameraden nach Estland und Lettland, die einst zum Zarenreich gehört hatten und inzwischen unabhängige Staaten waren, sowie über mangelnde Kulturangebote. Als die Seeleute von Arbeiterstreiks in Petrograd im Februar 1921 erfuhren, wollten auch sie nunmehr ihren Protest offen bekunden. Die Situation eskalierte.
Die vornehmlich aus ländlichen Gegenden stammenden Matrosen waren vor allem mit der bolschewistischen Politik der Lebensmittelrequirierung unzufrieden. Das Argument der Partei, diese sei unumgänglich, um das Proletariat in den Städten zu versorgen, verlor angesichts der Hungerrevolte der »hegemonialen Klasse« an Überzeugungskraft. Bisher waren Aufstände der Bauern und Streiks der Arbeiter mit dem Verweis auf den durch den Bürgerkrieg bedingten Notstand unterdrückt worden. Doch die letzte »weiße« Armee im europäischen Teil Sowjetrusslands war bereits im November 1920 zerschlagen. Die Kronstädter Matrosen, die während der Oktoberrevolution in Petrograd eine militärische Hauptmacht der Bolschewiki waren und als zuverlässige Unterstützer des revolutionären Ausnahmezustandes galten, wollten sich jetzt nicht mehr diesem Argument beugen, äußerten immer mehr Zweifel an dessen Legitimität.
Als am 28. Februar 1921 eine aus Petrograd zurückgekehrte Delegation der Kronstädter über die dortige Situation berichtete, verfassten die Mannschaften zweier Linienschiffe, der »Petropawlowsk« und »Sewastopol«, eine Resolution, in der allgemeinpolitische Forderungen erhoben wurden, darunter die Abschaffung der Zensur, Beendigung der privilegierten Stellung der Partei der Bolschewiki, allgemeine und geheime Neuwahlen zu den Sowjets, Einführung der Rede- und Pressefreiheit, Entlassung aller sozialistischen politischen Gefangenen, Zulassung von unabhängigen Gewerkschaften und aller sozialistischen Parteien, gleiche Rationen für alle Werktätigen. Die sogenannte Petropawlowsker Resolution fordert aber auch das Recht für die Bauern, alleine über ihren Land zu verfügen.
Ab dem darauffolgenden Tag überstürzen sich die Ereignisse. Die Resolution wird am 1. März von einer überwiegenden Mehrheit der Matrosen bei einer 15 000-köpfigen Kundgebung am Ankerplatz in Kronstadt entgegen Ermahnungen des anwesenden Vorsitzenden des Allrussischen Zentralen Exekutivkomitees der Räte, Michail Kalinin angenommen. Daraufhin spaltet sich die bolschewistische Parteiorganisation der Festung. Der Kommissar der Baltischen Flotte, N. Nikolai Kusmin, der Sowjetvorsitzende von Kronstadt, Pawel Wassiljew, sowie weitere Parteifunktionäre werden inhaftiert; der Komandant und Politkommissar der Festung fliehen.
Am nächsten Tag wird die Neuwahl des Kronstädter Sowjets von 300 Delegierten beschlossen. Die Kontrolle über die Insel übernimmt das Provisorische Revolutionäre Komitee unter dem Vorsitz des parteilosen Matrosen Stepan Petritschenko. Diejenigen Bolschewiki, die sich am Aufstand nicht beteiligen wollen, werden auf dem Schlachtschiff »Petropawlowsk« interniert. Die Aufständischen verzichten darauf, politische Gegner zu exekutieren, selbst als die Bolschewiki ihre Familien in Petrograd in Geiselhaft nehmen.
Die politischen Forderungen der Angehörigen der Streitkräfte wertet die Führung der Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewiki) umgehend als Meuterei. Bereits am 2. März brandmarkt Lenin die Ereignisse in Kronstadt als »weißgardistische Verschwörung«. Überall im Land wird verkündet, die Kronstädter würden von zaristischen Offizieren angeführt und vom Ausland unterstützt. Tatsächlich stellen sich die aus der Zarenarmee in die roten Streitkräfte mobilisierten Militärspezialisten, die in der Festung dienten, auf die Seite der Aufständischen; die politische Führung übernehmen sie jedoch nicht, selbst ihre militärischen Vorschläge werden nicht immer angenommen.
Die Parteispitze schlägt die von den Matrosen erbetenen und erhofften Verhandlungen aus und lässt die Festung von loyalen Truppen belagern. Während sich in Kronstadt ein Großteil der Mitglieder der KPR(B) den Aufständischen anschließt, überwiegt bei den Delegierten des am 8. März in Moskau eröffneten X. Parteitags die Parteidisziplin - selbst die Angehörigen der »Arbeiteropposition«, deren Forderungen teilweise nah an denen der Kronstädter sind, erklären sich bereit, an der bewaffneten Niederschlagung der Revolte teilzunehmen. Vergeblich versuchen die Matrosen von Kronstadt, zu einer neuen Revolution im Namen des Sozialismus aufzurufen, das ganze Land für ihre Sache zu mobilisieren. Vom Welt- und Bürgerkrieg ermattet, ausgelaugt, erschöpft, finden sich kaum Mitstreiter. Die Appelle der für ihre Teilnahme am »Roten Terror« berüchtigten Matrosen wirken eher abschreckend. Zumal der X. Parteitag der KPR(B) eine bauernfreundlichere »Neue Ökonomische Politik« in Aussicht stellt. Selbst in Kronstadt erklärt sich nur eine Minderheit der Bevölkerung zu aktiver Unterstützung der Matrosen bereit.
Das Kronstädter Provisorische Revolutionäre Komitee möchte zunächst keine Unterstützungsangebote bürgerlicher Kräfte aus dem In- und Ausland annehmen. Die Lebensmittelknappheit in der Festung zwingt es jedoch schließlich dazu, um internationale humanitäre Hilfe zu bitten. Die letzte Hoffnung der Matrosen ist ein rasches Schmelzen des Eises auf dem Finnischen Meerbusen, was eine Einnahme der Festung vom Land unmöglich machen würde.
Bereits am 5. März 1921 hat Leo Trotzki, Volkskommissar für das Kriegswesen, dem Befehlshaber der 7. Armee Michail Tuchatschewski den Auftrag erteilt, einen Angriffsplan zur Erstürmung der Kronstädter Festung zu erstellen. Die Offensive sollte am 8. März erfolgen, am Eröffnungstag des Parteitages der KPR(B). Der Angriff wird jedoch von den Kronstädtern erfolgreich abgewehrt.
Am 10. März melden sich 300 Delegierte des X. Parteitages freiwillig zur Erstürmung von Kronstadt. Bei der zweiten Attacke auf die Festung sind 50 000 Rotaramisten beteiligt. Nach zweitägigem heftigen Artilleriebeschuss gelingt am 18. März die Eroberung der Feste. Die Angreifer verlieren fast 2000 Mann. Die Anzahl der Gefallenen aufseiten der Aufständischen ist nicht exakt überliefert. Die Sieger nehmen blutige Rache: Über 2100 Kronstädter Rebellen werden hingerichtet, 6000 zu Haft und fast 5000 zu Verbannung verurteilt. 8000 Aufständischen, darunter Petritschenko, gelingt die Flucht über die vereiste Ostsee nach Finnland.
Der Kronstädter Aufstand ist ein Stein des Anstoßes geblieben, sorgt noch heute für hochemotionale Kontroversen zwischen den verschiedenen Fraktionen der Linken. Nach der Öffnung der Archive in Russland ist ein neuer Blick auf die Ereignisse möglich. Unbestritten zeigten sich die Aufständischen ihren gefangenen Gegnern gegenüber humaner als die Bolschewiki. Auch versuchten sie anfänglich, eine bewaffnete Konfrontation zu vermeiden. Die Version, es habe sich um eine Verschwörung von Weißgardisten und ausländischen Mächten gehandelt, lässt sich nicht mehr aufrechterhalten. Kronstadt war ein Ergebnis von Lenins taktischem Manöver, die Bauern durch die Verteilung des Bodens für die Bolschewiki zu gewinnen. Dadurch wurden diese jedoch zu Kleineigentümern, die keinen Grund sahen, ihre Produkte zu einem symbolischen Preis an den Staat abzuliefern.
Auch die Kronstädter waren fest davon überzeugt, für die Sache des Sozialismus zu kämpfen. Die theoretischen Differenzen zur Partei- und Staatsführung, was am Kapitalismus vorrangig zu kritisieren sei, bekamen jedoch eine praktische Dimension - mit blutigen Konsequenzen. Die Aufständischen waren zwar gegen Grundbesitz, aber für das Recht der Bauern, die Lebensmittel für den Handel auf dem Markt zu produzieren. Die Aufständischen verstanden sich als Verteidiger der Rätemacht. Dass sie die anderen sozialistischen Parteien - von den Bolschewiki noch nicht offiziell verboten, aber teilweise verfolgt und auf Distanz zur Macht gehalten - ebenfalls in den Räten repräsentiert sehen wollten, obwohl sie durchaus für einen bürgerlichen Parlamentarismus eintraten, schien den Kronstädtern kein Widerspruch zu sein.
Der bis heute fortgeschriebene linke »Mythos Kronstadt« ist geprägt von der Vorstellung, dass die Arbeiter-und-Bauern-Räte für einen radikaleren und linkeren Kurs standen als die Bolschewiki. Als ließen sich alle Probleme der russischen Revolution auf die Formel reduzieren, dass eine Revolution »von unten« etwas Positives sei, das jedoch »von oben« verdorben werde. Dabei stand der von den Kronstädtern geforderte »Freihandel mit Brot« im Widerspruch sowohl zu deren egalitärer Forderung nach »gleichen Rationen« für alle als auch zur Idee der Produktion und der Verteilung für die Bedürfnisbefriedung aller. Mögen noch so viele heutige Linke Kronstadt mit einem »freien Sozialismus« in Verbindung bringen - einen herrschaftsfreien Markt gibt es nun einmal nicht.
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