- Politik
- »Der Code des Kapitals«
Die Verschwörung der Rechtsanwälte
Das Kapital ist vor allem eine rechtliche Qualität, nämlich ein jegliches Ding in eine profitable Sache zu verwandeln - behauptet Katharina Pistor in ihrem Buch »Der Code des Kapitals«
Einer der positiven Effekte der Finanzkrise ab 2007 war sicher der, dass dabei die Produktionsweise, der es damals noch einmal gelang, sich in weitestgehend unveränderter Dynamik zu stabilisieren, besser in den Blick geriet. Seitdem ist es wieder üblich geworden, statt von - wahlweise »freier« oder gar »sozialer« - Marktwirtschaft vom Kapitalismus zu sprechen. Die realistischere Benennung eines Systems, das notwendig Ungleichheit erzeugt, ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg, es zu verändern - oder gar zu ersetzen. Aber was genau bedeutet eigentlich Kapitalismus? Und was hat der heutige Finanzkapitalismus noch mit dem Handelskapitalismus der Frühmoderne zu tun?
Dieser Frage geht die in den USA lehrende deutsche Juristin Katharina Pistor in ihrem Buch »Der Code des Kapitals« nach. Die ersten Ideen dafür datiert sie auf die Jahre 2007 und 2008, also zur Zeit des Beginns der Weltfinanzkrise. Dass Kapital nicht einfach identisch ist mit Geld, mag auch heutzutage nicht jedem Menschen klar sein. Bekannt war diese Tatsache allerdings bereits vor Karl Marx - wenn sie auch erst mit ihm einigermaßen geläufig wurde. Für Marx erschöpft sich das Kapital nicht im Tausch von Geld gegen Waren, sondern wird vor allem bestimmt durch die Ausbeutung und Abschöpfung von Mehrwert aus der Arbeit. Das Kapital kauft die Ware Arbeitskraft - und aus der Differenz von Preis und deren Reproduktionskosten bei gleichzeitiger produktiver Anwendung durchs Kapital ergibt sich der Profit.
Für Pistor reichen diese Attribute, Kommodifizierung und Profit, jedoch nicht aus. Seit Marx gab es eine Vielzahl widerstreitender Begriffsbestimmungen des Kapitals: Für die einen ist es ein »greifbares Objekt«, für die anderen einfach eine »betriebswirtschaftliche Variable«. Ein Grund für die Flüchtigkeit des Gegenstands könnte darin liegen, dass Kapital für Pistor nicht nur »kein Ding ist«, sondern nicht einmal wirklich an Dinge gebunden. Demnach besteht Kapital allein in einer »rechtlichen Qualität«, mit deren Hilfe ein beliebiges Gut - ob materiell, immateriell oder gar fiktiv - dazu eingesetzt werden kann, »Vermögen zu schaffen und zu schützen«.
Mit »Code« meint Pistor die juristische Codierung, sprich: geschickte Kombination verschiedener Rechtsinstrumente durch findige Anwälte, die entscheidet, welche Besitztümer in Kapital verwandelt werden können und welche nicht. Aber werden diese Rechtsinstrumente in Demokratien nicht von gewählten Volksvertretern geschaffen, die darauf hinwirken, dem demokratischen Grundsatz der Gleichheit zu genügen? Hier offenbart sich ein blinder Fleck der liberal-demokratischen Rechtssysteme. Denn allzu oft verfestigen sich in ihnen vordemokratische, feudale Verhältnisse, nur dass der Kapitalismus dieses »feudale Kalkül« in Teilen verstärkt, anstatt es abgeschafft zu haben.
Die kapitalistische Fortsetzung feudaler Ungleichheiten begann in der Frühmoderne damit, dass sowohl Grundherren als auch reiche Kaufleute begannen, das Land, das zuvor als Allmende gemeinschaftlich bewirtschaftet worden war, »einzuhegen« (enclosure) und absolute Eigentumsrechte daran zu beanspruchen. Nachdem die Bauern besiegt waren, führte diese Entwicklung letztlich zu den bürgerlichen Revolutionen um 1800, die unter weitgehender Besitzstandswahrung Elemente der feudalen Ordnung aufrechterhielten. So fanden vornehmlich subjektive - nicht kollektive - Eigentumsrechte, die die Grundbesitzer sich zuvor in kleinteiligen Rechtsstreitigkeiten gegen die Bauern und andere »Gemeine« erkämpft hatten, ihren Weg in die »demokratischen« Rechtssysteme, für die seitdem einige Bürger gleicher sind als andere.
Mit diesem kritischen Blick auf einen modernen Rechtsindividualismus folgt Pistor nicht zuletzt der »Kritik der Rechte« des Philosophen Christoph Menke. Dieser erblickt in der Proklamation subjektiver Rechte im Zuge der Aufklärung letztlich eine Privatisierung der Individuen und eine Entpolitisierung der Politik. Pistor nimmt nun vor allem die damals aufsteigende Zunft der Rechtsanwälte in den Blick und macht deutlich, dass größtenteils sie es waren, die den modernen Rechtscode des Kapitals geschaffen haben, und nicht etwa demokratisch legitimierte Gerichte oder Gesetzgeber. Und diese »Herren des Codes« folgten meist denjenigen, die sie am besten bezahlen konnten, und das waren mit jedem rechtlichen Sieg mehr und mehr die aufsteigenden Kapitalisten.
Historisch gesehen war das aber erst der Anfang. Auf die Kapitalisierung von Grund und Boden folgte die von Unternehmen, die in Form von haftungsbeschränkten Kapitalgesellschaften zu quasi unsterblichen juristischen Personen wurden. Denn neben priorisierten Zugriffsrechten (»Priorität«) ist auch die »Beständigkeit« eine wesentliche Kategorie des Kapitals. Eine weitere ist für Pistor die »Konvertierbarkeit«, die eine entscheidende Rolle dabei spielt, in komplizierten Konzerngeflechten nun auch Schulden in Kapital zu verwandeln - zumindest solange am Ende stets der Staat als antikonkursrechtlicher Schutzwall zum Bail-out bereitsteht.
Eine der Begleiterscheinungen der »Universalität« des Kapitals besteht schließlich darin, dass Konzerne sich weltweit ihr bevorzugtes Privatrechtssystem aussuchen können. Am beliebtesten, sprich: kapitalfreundlichsten, sind hier - wenig überraschend - das englische Common Law und das Recht des US-Bundesstaats New York, unter deren Domäne 93 der 100 weltweit führenden Anwaltskanzleien zu finden sind. (Für das Unternehmensrecht relevant ist außerdem der Heimatstaat Joe Bidens, Delaware, in dem 2017 mehr als 66 Prozent aller Fortune-500-Unternehmen inkorporiert waren.) Heutzutage ist es immer noch vor allem Finanzkapital, das in diesen Rechtsdomänen codiert wird, die wohl »fiktivste« Kapitalform von allen.
Doch nach der (ähnlich immateriellen) Kapitalisierung von geistigem Eigentum oder gar dem genetischen Code der Natur, hat der rechtliche Code des Kapitals nun womöglich einen Gegenspieler gefunden: den digitalen Code. Die Zeit des ungebrochenen Digitaloptimismus wie -utopismus ist heute längst vorbei, inzwischen scheint der Pessimismus zu dominieren. Zuletzt etwa in dem Buch der australischen Medientheoretikerin McKenzie Wark, »Capital is dead«, das den Kapitalismus nicht nur durch den digitalen »Vektoralismus«, die Herrschaft der Information, abgelöst sieht, sondern darin zugleich eine noch bedrohlichere Herrschaftsform ausmacht. Inwiefern in der Herrschaft der Daten allerdings wirklich eine ganz eigene, neue Machtform liegt, die nicht letztlich doch nur wieder auf eine abermals effizientere Kapitalakkumulation abzielt, vermag Wark freilich auch nicht völlig plausibel zu machen.
Dementsprechend setzt Katharina Pistor darauf, dass der Kapitalismus sich auch den digitalen Code wird einverleiben können. Das hätte den Vorteil, dass die Macht über das - immerhin noch formal demokratische - Rechtssystem theoretisch weiter zugänglich bliebe. Es bedürfte dann allerdings endlich einer echten Demokratisierung des Rechts, für die Pistor freilich nur einige »Roll-back-Strategien« anzubieten vermag, die das Kapital nach und nach aus seinen rechtlich codierten Privilegien wieder zugunsten der Allgemeinheit zurückdrängen sollen: verstärkte Regulierungen bei der Wahl zwischen den Rechtssystemen und für Börsenspekulation, Schadensersatzansprüche und bessere Vernetzung für die demokratischen Gemeinschaften.
Es mag ja stimmen, dass es angesichts der Macht des Kapitals kaum eine gangbarere Alternative zu einem solchen »beharrlichen Inkrementalismus« - also einer schrittweisen Veränderung - gibt, der schließlich auch die Kapitaleigner selbst über die Jahrhunderte zum Erfolg geführt habe. Während aber Christoph Menke für seine Repolitisierung der Demokratie noch ein sich immer wieder selbst erneuerndes »revolutionäres Recht« forderte, hält Pistor Revolution und Klassenkampf für überflüssig. Ohne zumindest ein - heutzutage ja überhaupt erst wieder zu entwickelndes - Klassenbewusstsein stellt sich allerdings die Frage, wer diese Demokratisierung dann eigentlich initiieren und tragen sollte.
Katharina Pistor: Der Code des Kapitals. Wie das Recht Reichtum und Ungleichheit schafft. Suhrkamp, 440 S., geb., 32 €.
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