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Die zwei Welten der Atomenergie
Immer weniger Industriestaaten setzen auf Kernkraftwerke. China, Indien und Russland bauen dagegen neue Reaktoren
Atomenergie war zuletzt noch immer weltweit die zweitwichtigste Quelle von CO2-armer Stromerzeugung nach großen Wasserkraftwerken. 441 Atomkraftwerke produzierten 2018, dem Jahr mit der letzten kompletten Statistik, rund zehn Prozent des Stroms und damit mehr als alle Wind- und Solaranlagen zusammen. Die Internationale Energieagentur (IEA) schätzt, dass in den vergangenen 50 Jahren mittels Atomstrom die Emission von 55 Milliarden Tonnen Kohlendioxid vermieden werden konnte, was dem globalen Ausstoß von etwas mehr als einem Jahr entspricht.
Die meisten Reaktoren stehen in den USA (94), gefolgt von Frankreich (56), China (49), Russland (38), Japan (33), Südkorea (24), Indien (23) und Kanada (19). In den USA und der Europäischen Union sind allerdings gut 80 Prozent der Meiler über 30 Jahre alt und erreichen damit bald das Ende ihrer geplanten Nutzungsdauer. In China hingegen sind vier von fünf Atomkraftwerken noch keine zehn Jahre alt.
Insbesondere für die EU erwartet die IEA denn auch einen Rückgang der Produktion von Atomstrom um knapp zwei Drittel binnen der nächsten zehn Jahre. In den USA und anderen Industriestaaten prognostiziert die Behörde einen Rückgang bis 2040. In keinem dieser Länder lohnt sich der Bau neuer Atomkraftwerke. Die Nutzung von Wind- und Solarenergie ist überall erheblich preiswerter - vor allem ihr Ausbau wird auch aus Klimaschutzgründen massiv vorangetrieben. Die Ausnahme ist Japan, wo die Erneuerbaren noch immer sehr teuer sind.
In den Industriestaaten sind denn auch nur noch wenige neue Atomkraftwerke im Bau: Gerade mal 8 der 53 im Bau befindlichen Meiler sind in der EU, den USA oder in Japan. Was sich allerdings lohnt, sind Investitionen in Maßnahmen, um die Nutzungsdauer zu verlängern. So hat Frankreich soeben beschlossen, dass die ältesten Atomkraftwerke nicht nach 40, sondern erst nach 50 Jahren vom Netz gehen sollen.
In Zukunft wird sich die Nutzung von Atomenergie immer stärker auf drei Länder konzentrieren: China, Indien und Russland. Hier findet sich knapp die Hälfte der Kraftwerke, an denen derzeit gebaut wird. Noch klarer ist das Bild bei Atomkraftwerken, die sich in der Planungsphase befinden: Drei Viertel entfallen auf diese drei Länder.
Der einzige Industriestaat, der seine AKW-Flotte erweitert, ist Südkorea. Die in Bau befindlichen vier Kraftwerke werden allerdings die letzten sein. Südkoreas Präsident Moon Jae In hat angekündigt, dass das Land in den nächsten 45 Jahren aus der Atomenergie aussteigen wird. Noch ist Atomtechnik allerdings ein Exportschlager. Der Energiekonzern Kepco errichtet derzeit ein Kraftwerk mit vier Blöcken in den Vereinigten Arabischen Emiraten, von denen einer bereits läuft. Neu zum Klub der Länder, die Atomenergie nutzen, werden zudem Bangladesch und die Türkei stoßen, wo je zwei Kraftwerke im Bau sind. Geplant sind schließlich Kraftwerke in Ägypten und Usbekistan.
Herkömmliche Atomenergie hat außerhalb autoritär regierter Länder offenbar kaum noch eine Zukunft. Gerade der GAU von Fukushima 2011 hat die Risiken der Atomkraft deutlich gemacht und vielerorts die Ablehnung in der Bevölkerung verstärkt.
Aus Sicht der Atomwirtschaft sollen zwei andere Spielarten dies ändern: kleine, modulare Reaktoren (SMR) und die Kernfusion. SMR haben eine Kapazität von unter 10 bis 500 Megawatt und sind damit weniger als halb so leistungsstark wie ein herkömmliches Atomkraftwerk. Bislang existiert dieser Reaktortyp aber fast nur auf dem Papier: Nur in Russland sind zwei Anlagen mit 35 und 50 Megawatt am Netz. SMR haben allerdings einen bekannten Fürsprecher: Bill Gates propagiert in seinem Buch »Wie wir die Klimakatastrophe verhindern« den Bau von SMR und hat auch eine eigene Firma namens Terra Power, die diese entwickelt. Die Vorteile aus Gates’ Sicht: »Die neue Generation löst die Wirtschaftlichkeit, die das große, große Problem war.« Außerdem »revolutioniert sie die Sicherheit«.
Und dann gibt es Befürworter einer Kernfusion, die hoffen, mit dem gleichen Prozess wie in der Sonne auf der Erde Energie erzeugen zu können. In Frankreich baut die EU mit Partnerländern einen Prototypreaktor namens ITER, der über 22 Milliarden Euro kosten soll. Mittlerweile gibt es aber auch mehr als 20 Start-ups in diesem Sektor, die meist von US-Milliardären wie Gates oder Jeff Bezos finanziert werden. Mit einem baldigen Durchbruch wird auch hier nicht gerechnet. Der ITER-Reaktor soll frühestens 2035 Strom produzieren.
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