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Wir sind alle popmodern
Der Ethnologe Christian Elster hat die Menschen, die Popmusik sammeln, erforscht
Die Schallplatte sei das »Statussymbol großstädtischer Neobiedermeierspießer« und eine Plattensammlung der »Gartenzwerg des Hipsters«. So schimpfte Aram Lintzel im Jahr 2015 in der »Spex« über Plattensammler. In seinem schönen Buch »Pop-Musik sammeln« gelingt es nun dem Ethnologen Christian Elster zu zeigen, dass eine Plattensammlung mehr ist, als ein Gartenzwerg mit Hipsterbart.
Ethnologen decken Vorstellungsstrukturen auf, die menschliches Handeln in einem bestimmten Kontext bestimmen. Der polnische Wissenschaftler Bronislaw Malinowski (1884-1942), der Urahne aller Ethnologen, fuhr einst nach Neuguinea, um am Alltag der dort lebenden Menschen teilzunehmen. »Feldforschung« nannte er das. Er wollte durch teilnehmende Beobachtung die innere Logik dieser ihm fremden Gesellschaft kennen- und verstehen lernen. Das war eben kein herablassender Blick auf »Eingeborene«, »Primitive« oder »Exoten«, wie es damals im Zeitalter des Imperialismus hieß.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Christian Elster ist der Bronislaw Malinowski der Popmusik. Er ist auf Feldforschung und zwar in Plattenläden, Vinyl-Presswerken, Platten-Börsen und den Wohnungen von Plattensammlern. Er durchkämmt mit Spotify-Hörern ihre Playlists und klickt sich mit mp3-Sammlern durch ihre Speicherplatten. Das ist sozusagen sein Neuguinea.
Pop ist ein Konsumprodukt, das zu individual-ästhetischen Konsum einlädt. Einerseits besteht Pop aus Songs, die unser Zeiterleben und unsere Erinnerung mitprägen. Andrerseits ist Pop auch ein Stil-Universum aus Klamotten, Frisuren, Posen und Sprechweisen. Der von Elster zitierte Kulturwissenschaftler Jochen Bonz spricht davon, dass wir in der »Popmoderne« leben: Alle Menschen, die seit den 50er Jahren aufgewachsen sind, wurden in diesem Pop-Universum sozialisiert. Popmoderne Subjekte sind in einen Lebensstil eingebettet, der ihre Weltsicht bestimmt.
Es geht also um die Art von Konsum, die der Bildung eines Selbst zuarbeitet, indem sie Gefühle und persönliche Geschichten wie Horkruxe abspeichert. Also der Teil der gespaltenen Seele oder des Selbst, den Magier in den Harry-Potter-Büchern auslagern, beispielsweise in einen Gegenstand. Allerdings müssen sie dafür jemand umgebracht haben. Aber das ist ja nur eine Erfindung! Popmusik ist doch real - und friedlich.Und Popmusikhörer sind eingesponnen in ein Netz aus Verweisen, Beziehungen und Gegenständen. Die sonischen Horkruxe sind die Songs. Die Tonträger und ihre Abspielgeräte sind technische Horkruxe. Der Unterschied zwischen einer Popmusiksammlung und einer Münz- oder Briefmarkensammlung ist, dass man keine Gegenstände sammelt, sondern Teile seiner eigenen Persönlichkeit.
Christian Elster gelingt es, genau diesen Aspekt sehr deutlich herauszuarbeiten. Etwa, wenn er das Stöbern beschreibt. Seine dichte Beschreibung des Durchblätterns von Plattenkisten in einem Plattenladen beamt die Leser*innen direkt hinein in die Situation. »Ah, guck, die Stranglers. Rattus Novegicus. Ich kenne nur wenige Songs auf diesem Album. Geiler Basssound, denke ich, und super Albumtitel …«, folgen wir den Gedanken des Stöberers. Und am Ende kommt er zu dem Schluss: »… passt irgendwie nicht mehr zu mir.«
Elster, der selber passionierter Plattensammler ist, beschreibt hier eine eigene Erfahrung. Aber er bleibt nicht dabei stehen. Er interviewt weitere Stöberer und beobachtet eine Spotifyhörerin beim Kuratieren ihrer Playlists. Und dann bringt er seine Beobachtungen prägnant auf den Punkt. Die Kriterien zum Auswählen einer Schallplatte »…basieren auf implizitem und explizitem Wissen von stöbernden Menschen, stehen in Verbindung mit persönlichen Erinnerungen und subjektiven Bedeutungszusammenhängen, die sich während des Stöberns in einer Art ›Stream of Consciuosness‹ verdichten.« Pop wird erst bedeutsam, wenn er in den Alltag der Pop-Musik-Hörer eingebettet ist.
Auf die gleiche Weise untersucht Elster das Beziehungsgefüge in Plattenläden, die Bedeutung von Vinylplatten, die Ordnung von Plattensammlungen (alphabetisch oder autobiografisch?), welche Bedeutung der iPod für den Musikkonsum hatte, wie auf Spotify Musik gesammelt wird und wie Sammler aussortieren (»Tat gar nicht so weh, wie man sich das vorstellt«, sagt ein Sammler im Interview). Das Kapitel »Aussortieren« ist eines der Interessantesten, weil es zeigt, wie sehr Biografie und Popmusik miteinander verwoben sind.
Die Gestaltung des Buches passt sich seinem Gegenstand an. Den Umschlag ziert Andy Warhols berühmte Banane für das Cover des ersten Velvet-Underground-Albums. Aber nicht einmal, sondern gleich vier Mal: Eine Sammlung! Einleitung, die Kapitel sind als Tracks angeordnet, wie auf einer CD. Die Einleitung ist das Intro, der Schluss ist der Hidden Track. Jeder Track beginnt mit einer Zeichnung des Grafikers Alex Solmann.
Die Tracks sind Sondierungen der Seele von uns popmodernen Subjekten. Immer wieder denkt man, genau so bin ich. Aram Lintzel würde das bei der Lektüre dieses Buches ganz bestimmt auch denken. Es ist weit mehr, als ein Buch über nerdige Plattensammler. Es ist ein Buch darüber, wie wir uns in der Popmoderne selber verstehen.
Christian Elster: Pop-Musik sammeln: Zehn ethnografische Tracks zwischen Plattenladen und Streamingportal. Transcript, 238 S., br., 29 €.
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