Der Wechsel der Welten

Elisabeth Shaw schickt Stadtmäuse auf Knattertour durch die Landschaft

  • Silvia Ottow
  • Lesedauer: 3 Min.

Es ist bei den Mäusen wie bei den Menschen: Die einen sitzen gern auf dem Land unterm Apfelbaum, befeuern den Ofen ihres Hüttchens mit Holz und essen die Biomöhren aus dem Garten. Die anderen wohnen mit Tausenden Artgenossen im städtischen Hochhaus, heizen mittels Knopfdruck und verspeisen Aufgetautes aus dem Tiefkühlschrank. Wer mag schon darüber richten, welches Leben vorzuziehen sei, und ob es immer vernünftig ist, von allem das Beste haben zu wollen - etwa die Ruhe der Natur, kombiniert mit den Events der Metropole. Beschäftigt hat dieses Thema die Literatur seit Langem, wir finden es bei Dichtern wie Äsop oder La Fontaine ebenso wie bei zeitgenössischen Autoren.

• Buch im nd-Shop bestellen
Elizabeth Shaw: Die Landmaus und die Stadtmaus.
Beltz/Der Kinderbuchverlag, 32 S., Pappbilderbuch, 9,95 €. •

In unserem Fall probiert ein Mäuserich den Wechsel zwischen den Welten. Dieser ist nicht gerade unzufrieden mit dem immer gleichen Landleben, in welchem der Großvater seine Pfeife raucht und die Großmutter im großen Zuber die Wäsche wäscht. Als jedoch der Stadtmäuserich auf dem knatternden Moped zu Besuch kommt - gelbkarierte Schlaghose und Zigarette lässig im Mundwinkel -, packt den staunenden Artgenossen doch die Lust, sein Bündel für einen Abstecher in das Reich der Hochhäuser, Fabriken und Tanzlokale zu schnüren.

Gedacht, gemacht. Mäuserich bleibt ein paar Jahre. Länger, als es der weise Pfeifenraucher in der Abgeschiedenheit für möglich gehalten hatte. Als unser abenteuerlustiges Kerlchen wieder zu Hause eintrifft, hat sich auch hier einiges verändert: Straßen führen in die Idylle, auf denen Autos lärmen. Die Großeltern verkaufen Hotdogs an hungrige Besucher, die noch bis vor Kurzem graue Stadtmäuse gewesen waren.

Elisabeth Shaw (1920-1992), die in Belfast geborene irische Künstlerin, war ebenfalls eine Städterin. Allerdings eine mit Landverstand, wenn nicht Landlust. Sie lebte seit 1946 mit ihrem Mann und den zwei Kindern in Berlin, größtenteils in Pankow. Wer in der DDR gern Bücher las oder als Kind Bilder darin anschaute, dürfte kaum um die lustigen Schweine, Mäuse oder Füchse der begnadeten Illustratorin und Autorin herumgekommen sein. Ihre Bilderbücher sind Klassiker.

Unvergessen der kleine Angsthase - Shaws 1963 im Kinderbuchverlag erschienenes erstes Bilderbuch -, der bis 1990 allein 20 Auflagen erlebte und so in mehr als 736 000 Kinderzimmer hoppelte. Man kann getrost davon ausgehen, dass er von dort aus immer weitervererbt wurde, bis vielleicht doppelt so viele kleine Menschlein mit dem Angsthäschen mitgefiebert hatten, das am Ende für seinen besten Freund den Fuchs besiegt und so über sich selbst hinauswächst.

Doch Shaw entwickelte nicht nur eigene Sujets, sie illustrierte Werke von James Krüss, Bertolt Brecht, Mark Twain, Berta Waterstradt, Gerhard Holtz-Baumert, Heinz Kahlau, Karl Marx und Lothar Kusche. Immer mit ihrem unverwechselbar lässig-lustigen Strich, der die Protagonisten mit wenigen Attributen so haargenau charakterisierte. Wie der Stadtmäuserich überlegen im Sessel vor seinem ländlich unsicheren Gast thront, ist ein Vergnügen für kleine und große Betrachter: Die Augen geschlossen, denn er hat alles auf der Welt schon gesehen; die Beine locker übereinandergeschlagen, damit die modischen spitzen Schuhe zur Geltung kommen.

Sein Gegenüber indes mit den patschigen Dorfstiefeln hat sich erwartungsvoll vornübergebeugt, mit weit aufgerissenem Auge schaut er die Stadtmaus an, rechts die Cognacschwenker, links der Fernsehapparat. Für ihn beginnt ein Abenteuer. Und für alle Lesenden ebenfalls.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -