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Bohrende Fragen nach dem Treiben der Treuhand

Vor 25 Jahren war der Chemnitzer Chemieanlagenbauer Germania pleite. Warum das so war, beschäftigt die Ex-Mitarbeiter noch immer

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 9 Min.

Die Pforte am Beginn des Werksgeländes ist unbesetzt. »Da fahren wir eben einfach rein«, sagt Otfried Frenzel. Er scheint sich noch immer zu Hause zu fühlen auf dem Areal, das einst den Chemieanlagenbauer Germania in Chemnitz beherbergte. Dort - er zeigt auf eine turmhohe Halle aus Backstein - seien riesige Bleche gebogen wurden. Da - eine andere Halle - wurden daraus Kessel und Kolonnen geschweißt; Behälter, in denen chemische Reaktionen ablaufen und die bis zu 35 Meter hoch waren. Frenzel zeigt das Bürogebäude, in dem er, ein studierter Mathematiker, im Rechenzentrum arbeitete, und den Fleck, auf dem die Baracke des Betriebsrats stand. Den leitete er, bis bei Germania vor 25 Jahren die Lichter ausgingen.

Otfried Frenzel kennt sich noch gut aus in seinem einstigen Betrieb - und das, obwohl er das Gelände fast ein Vierteljahrhundert nicht mehr betreten hatte. Am 21. Februar 1996 wurde für den Betrieb, der eine Tradition über 210 Jahre und in der DDR als VEB Germania Karl-Marx-Stadt auch international einen exzellenten Ruf hatte, Gesamtvollstreckung beantragt. Danach rangen Frenzel und seine Mitstreiter noch einige Monate um eine Fortführung; es gab ein Konzept zur Rettung und einen seriösen Interessenten. Im Juli 1996 platzten alle Hoffnungen. Er und seine Kollegen seien »auf das Bitterste enttäuscht« gewesen, sagt Frenzel. Er selbst wurde krank und zur Kur geschickt: »Man steckt das nicht so einfach weg.« Eigentlich hatte er vor, seine Erlebnisse aus den 1990er Jahren aufzuschreiben. Bei der Reha riet ein Psychologe, den Plan im Interesse seiner seelischen Verfassung aufzugeben und die über Jahre angesammelten Unterlagen zu entsorgen. Den Rat habe er befolgt. Und das Betriebsgelände betrat er nicht wieder.

Allerdings nagten die Fragen weiter: Warum ging es damals zu Ende? Wer hat dafür gesorgt, dass der Interessent nicht zum Zuge kam? Ein Unternehmer aus dem Siegerland hatte in Chemnitz neben den Chemieanlagen auch große Rohre herstellen wollen und bereits begonnen, Mitarbeiter in seinem Werk umzuschulen. Das Konzept schien bei Verhandlungen im sächsischen Wirtschaftsministerium auf Wohlwollen zu stoßen. »Es galt, die Germania als industriellen Kern der Region zu erhalten«, sagt Frenzel. Im April schien ein Durchbruch erzielt, dann aber geschah wochenlang nichts - bis im Juli der Investor bedauernd zurückzog. Man habe ihm »Knebelverträge« vorgelegt, die nicht akzeptabel seien, hieß es. Frenzel und seine Kollegen rätselten über Gründe, damals und noch Jahre später. Viele ehemalige Beschäftigte treffen sich regelmäßig: auf der Straße, beim Einkaufen oder im »Frohen Zecher«, einer Kneipe nicht weit vom Werksgelände. »Da fragt man, wie es der Frau geht und wohin es die Kinder verschlagen hat«, sagt Frenzel, »aber bald ist man bei der Frage: Wie ist das damals gelaufen?«

Zunächst lief es bei Germania wie bei vielen Firmen in der früheren DDR. Der Volkseigene Betrieb (VEB) wurde in eine GmbH umgewandelt, die Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL) durch einen Betriebsrat ersetzt, wobei »beide bei uns noch ein Jahr gut miteinander gearbeitet haben«, sagt Frenzel. Die Belegschaft entschied, sich fortan nicht mehr von der Chemiegewerkschaft Ost vertreten zu lassen, sondern von der IG Metall West. Frenzel wurde als Vorsitzender des Betriebsrats und damit Belegschaftsvertreter in den Aufsichtsrat geschickt. Die Zahl der Mitarbeiter, zunächst waren es noch exakt 1665 gewesen, sank auf zunächst 950.

Im Jahr 1993 passierte bei Germania, was damals in vielen einstigen DDR-Betrieben geschah: Das Unternehmen wurde von der Treuhand verkauft. Die Behörde war 1990 gegründet worden, um die DDR-Wirtschaft zu privatisieren oder abzuwickeln. Das Tempo war atemberaubend. Von 8500 Betrieben im Sommer 1990 waren binnen vier Jahren nur 601 nicht auf einen der beiden Wege gebracht worden. Zwei Drittel wurden verkauft, überwiegend an Unternehmer aus dem Westen; 30 Prozent wurden dichtgemacht. Von einst vier Millionen Arbeitsplätzen blieben höchstens 1,1 Millionen. Der Historiker Marcus Böick, der eine Dissertation über die Treuhand verfasste, dazu auch in deren Unterlagen forschen durfte und die Ergebnisse im Juni 2018 publizierte, sprach von einer »immensen Schockwirkung für die ostdeutsche Gesellschaft«.

Besuch an alter Wirkungsstätte: Ex-Betriebsratschef Otfried Frenzel
Besuch an alter Wirkungsstätte: Ex-Betriebsratschef Otfried Frenzel

Im Fall der Germania Chemnitz GmbH erhielt im Herbst 1993 ein indischer Unternehmer den Zuschlag, »gegen den erklärten Willen des Betriebsrats«, sagt Frenzel. Der Traditionsbetrieb wurde für den symbolischen Kaufpreis von einer D-Mark übertragen. Die Altschulden von 68 Millionen DDR-Mark erließ man; dazu gab es 100 Millionen D-Mark Starthilfe. Ein Teil des Geldes sollte investiert und im Gegenzug 500 Arbeitsplätze erhalten werden. Auf die Investitionen wartete man freilich vergebens. Wie sich später herausstellte, versickerte das Geld bei Briefkastenfirmen in Steuerparadiesen sowie in Beraterverträgen für Verwandte des neuen Eigentümers. Aber auch eine teure Mietwohnung, ein Mercedes für 200 000 Mark und sogar die Mitgliedsbeiträge für einen Unternehmerverband sollen aus den Zuschüssen finanziert worden sein. Die Zahl der Mitarbeiter sank derweil auf nur noch 250. Nach zweieinhalb Jahren war das Geld weg; die Gesamtvollstreckung wurde beantragt.

Zum Wirken der Treuhand hätte es schon damals viele Fragen gegeben; Sachsens Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU) habe dieser später eine »misslungene Erstprivatisierung« vorgeworfen. Frenzel und die Belegschaft hatten indes anderes im Kopf: »Wir wollten den Betrieb nicht aufgeben«, sagt er. Man besetzte die Firma, stand bei eisigem Wetter vor dem Werkstor, wo es Solidaritätsbesuch »vom Bischof bis zum Oberbürgermeister« gegeben habe und Anwohner warmes Essen vorbeibrachten. Der Protest sorgte auch überregional für Aufsehen. Zwar galt Chemnitz vor allem als Hochburg der Textilindustrie und des Textilmaschinenbaus, die in jenen Jahren ebenfalls abgewickelt wurden, sowie als Heimat von Werkzeugmaschinenherstellern wie Heckert und Union. Germania hatte sich aber ebenfalls einen Namen gemacht. Druck wurde vor allem gemacht, als der mögliche Investor aus dem Siegerland ins Spiel kam. Die Belegschaft fuhr mehrfach nach Dresden zum Wirtschaftsministerium, mit Bussen, per Autokorso »und einmal sogar mit der Bahn«, sagt Frenzel. Nach Berlin indes, zur Zentrale der Privatisierungsbehörde, fuhr man nicht: »Für uns gab es die Treuhand gar nicht mehr«, sagt er: »Das Kapitel war für uns abgeschlossen.«

Dass die Treuhand doch ein guter Adressat für Protest gewesen wäre, fand Frenzel erst Jahrzehnte später heraus. Im Jahr 2019 begann der einstige Betriebsratsvorsitzende, der zwischenzeitlich in die Kommunalpolitik gegangen war und zwei Wahlperioden lang für die SPD im Chemnitzer Stadtrat gesessen hatte, in Archiven zu suchen - auch nach Unterlagen der Treuhand. Die gibt es in rauen Mengen. Von zehn Regalkilometern sprach Historiker Marcus Böick. Sie seien freilich in »chaotischem« Zustand; die Aufarbeitung werde »bis weit in die 2020er Jahre andauern«, prophezeite er bei Vorstellung seiner Studie vor drei Jahren. Er schilderte damals auch, dass er als Wissenschaftler erst nach einem zähen Ringen mit Bundesbehörden und Ministerien Einblick nehmen durfte.

Um so schwieriger war die Ausgangslage für Otfried Frenzel. Um die Probleme zu erläutern, zeichnet er mit der Spitze des Regenschirms drei konzentrische Kreise in den Straßenstaub. Die inneren seien beispielsweise Wissenschaftlern vorbehalten; nur der äußere sei auch ihm zugänglich: einem Betroffenen, der herausfinden möchte, was mit seinem Betrieb geschah. Auf ein Auskunftsersuchen hin erhielt er 15 Blatt Papier: Tagesordnungen von Gremiensitzungen in der »Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben«, die 1995 aus der Treuhand hervorgegangen war. Was er fand, war brisant. Zweimal tauchte der Name »Germania Chemnitz« in den Unterlagen auf. Ende Juni 1996, rund zwei Monate, nachdem der potenzielle Investor im Dresdner Ministerium ein Konzept vorgelegt hatte, befasste sich der Leitungsausschuss mit dem Unternehmen, Anfang Juli auch der Vorstand. Nur Tage danach zog sich der Investor zurück. »Da wissen sie, dass dort etwas gelaufen ist«, sagt Frenzel. Was genau, erfuhren er und seine Kollegen nicht - was für Unverständnis und Wut sorgt. »Bei uns Betroffenen besteht noch immer ein spürbares und berechtigtes Interesse daran, die tatsächlichen Vorgänge aufzuklären«, betont Otfried Frenzel: »Wir fordern deshalb immer wieder und immer noch die Einsicht in die Treuhandakten.«

Die Sätze finden sich in einem Buch, das dieser Tage erschienen ist und in dem Ostdeutsche auf 30 Jahre Einheit blicken. Es basiert auf einer Reihe von »Erzählsalons«, in denen das Unternehmen »Rohnstock Biografien« Menschen Gelegenheit gibt, Lebensgeschichten aus drei Jahrzehnten zu erzählen und dabei manchmal auch auf die Zeit der DDR und des Umbruchs 1989/90 zu schauen. In dem 280 Seiten dicken Buch, das als E-Book unter »www.deine-geschichte-unsere-zukunft.de« kostenlos zu beziehen ist, kommen 62 Erzählerinnen und Erzähler zu Wort. Es gehe, sagt Herausgeberin Katrin Rohnstock, »um Hoffnungen und Enttäuschungen, Mut und Kummer.«

Otfried Frenzel musste lange überzeugt werden, bevor er die Einladung zum Erzählsalon annahm. So wenig, wie er das Werksgelände je wieder betreten hatte, so wenig wollte er mit seinen Erinnerungen an Germania in der Öffentlichkeit auftreten. Im August 2020 ließ er sich schließlich doch überzeugen. Sein Bericht ist im Internet zu sehen; im Buch steht sein Beitrag unter dem Titel »Der Industriegigant VEB Germania: Von der Treuhand verscherbelt und verraten«.

Der Auftritt hatte ungeahnte Folgen, die dazu beitrugen, den Untertitel seines Textes zu untermauern. Frenzel kam durch den Erzählsalon in Kontakt mit dem Chemnitzer CDU-Politiker Frank Heinrich, der im Bundestag sitzt und sich für den ehemaligen Betriebsrat um Unterlagen der Treuhand kümmerte - in einem »geordneten Verfahren«, wie er auf Anfrage nachdrücklich betont. Die Recherche hatte Erfolg; allerdings bekam Frenzel kein Blatt Papier in die Hand. Er könne »personengebundene Informationen« erhalten, dürfe die Unterlagen jedoch nicht mit eigenen Augen einsehen, wurde ihm mitgeteilt. Das Prozedere, das Frenzel schildert, wirkt leicht skurril: Die entscheidenden Passagen wurden ihm am Telefon vorgelesen.

Was er zu hören bekam, darf Frenzel nicht sagen. Nur so viel ist zu erfahren: Zum einen spielte die Treuhand wohl tatsächlich eine unrühmliche Rolle auch beim zweiten Anlauf einer Privatisierung: »Die wissen schon, warum sie es 30 Jahre verstecken«, sagt er. Zum anderen aber werfen die Auskünfte wohl ein Licht auf eine diffizile Situation, in der Interessen von Konkurrenten ebenso eine Rolle spielten wie das EU-Beihilferecht und in der sich auch das Land nicht mit Ruhm bekleckerte. »Man sieht jetzt klarer, wie es war«, sagt Frenzel. Die Auskünfte hätten »zur Klärung und Befriedung beigetragen«, erklärt der CDU-Abgeordnete Heinrich.

Frenzel freilich ist nun in einer misslichen Situation: Was er weiß, dürfen seine Kollegen von ihm nicht erfahren. Das sorgt für Unverständnis und Unmut. »Sie sagen: Du hast die Akten gesehen. Und warum dürfen wir nicht?!«, sagt er: »Bei ihnen bleibt damit weiter nur das Gefühl, betrogen worden zu sein, und der Eindruck, dass sich keiner für Fehler entschuldigen will, die damals gemacht wurden.« Die »Geheimniskrämerei« um die Akten der Treuhand müsse endlich beendet werden, fügt er an - und sieht neben der Politik auch »seine« Gewerkschaft in der Pflicht. Er habe bei Versammlungen immer wieder gedrängt, ohne Erfolg: »Ich würde mir von der IG Metall wünschen, dass sie sich diesem Anliegen viel stärker widmet.«

Immerhin haben der Erzählsalon und ein kürzlicher Pressebericht zum 25. Jahrestag der Pleite seines Betriebes dazu geführt, dass er doch wieder dessen Werksgelände betritt. »Germania war ein trauriges Kapitel«, sagt der 82-Jährige, aber er wolle »lieber optimistisch enden.« In den Hallen sind heute zwei Nachfolgefirmen ansässig, die die Tradition des Chemnitzer Anlagebaus aufrechterhalten. Sie seien gut im Geschäft; sogar Lehrlinge würden ausgebildet. Das freut ihn besonders. Die Vergangenheit ist eine Sache. Aber die Zukunft ist ihm genauso wichtig.

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