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Die zwei Realitäten
»Sie sahen Systeme stürzen. Sie gingen in den Park«: Marius Goldhorn erzählt die Gegenwart
In den vergangenen Monaten haben sich wohl die meisten von uns daran gewöhnt, der Welt noch ausschließlicher digital zu begegnen, als es schon vor der Coronakrise in für viele beunruhigendem Maße der Fall war. Von den »Bedrohungen« des Digitalen war aber plötzlich gar nicht mehr so viel zu hören, sondern vor allem von den »Chancen«.
Die Verschmelzung oder zumindest lückenlose Verfugung des Analogen mit dem Digitalen präsentiert uns Marius Goldhorn in seinem Debütroman »Park« schlicht als Beschreibung der Gegenwart (auch ohne Corona). Zugleich wirkt das Buch des 1991 geborenen Autors dieser Tage wie ein zynischer Kommentar auf die aktuelle Lage. Denn der junge Protagonist Arnold kann darin natürlich noch ganz unbehelligt von Hygienevorschriften und Abstandsregeln durch Europa reisen. Und doch scheint es fast so, als hätte die digitale Welt, die er überall mit sich herumträgt, für ihn mehr Realität als die Realität selbst.
Aber vielleicht ist gerade diese Unterscheidung zwischen zwei vermeintlich getrennten Realitäten der elementare Verständnisfehler gegenüber der heutigen Lebenswirklichkeit? Und vielleicht erscheint die Bedeutung des Digitalen für unsere Welterschließung in »Park« nur deswegen so beunruhigend groß, weil normalerweise in Romanen eben nicht jedes einzelne Entsperren des i-Phones oder Öffnen des Mac-Books im Laufe eines Tages minutiös dokumentiert wird. Das ist, was von der exzessiven Nennung von Markennamen aus der Lonely-young-man-Popliteratur der 90er Jahre übrig geblieben ist. Das und natürlich jede Menge Content: all die Bücher, Filme, Songs und Wikipedia-Artikel, die Arnold Tag für Tag auf seine mobilen Endgeräte zieht. Dies alles zu erwähnen, ist deswegen aber nicht weniger realistisch - oder stilistisch gewagt. Im Gegenteil. Und so wird schließlich der Blick frei für den immerhin noch relativ klassischen Plot des Reise-, Großstadt- und Liebesromans.
Arnold fährt von seiner Heimatstadt am Rhein mit dem Zug nach Paris, weil von dort aus das Flugticket nach Athen, seinem eigentlichen Ziel, viel billiger ist als von Deutschland. In Athen soll er seiner inzwischen in London lebenden Ex-Freundin Odile bei einem Filmdreh assistieren. Im ersten Teil des Buches streift Arnold durch Paris. Er beobachtet Junkies und Passanten, stellt tourismuskritische Betrachtungen an, guckt Internetvideos, unterhält sich mit einem Kioskbesitzer, löscht Spam-Mails, schreibt ein Gedicht über einen Alien-Albtraum und hält in seinem Chat-Fenster Ausschau nach den drei Punkten, die ihm irgendwann endlich eine Nachricht von Odile signalisieren.
Der zweite Teil springt zurück in das latent depressive Einerlei, in dem Arnold in Berlin seine Alltage damit verbringt, ziellos im Internet zu surfen, bekifft Videospiele zu spielen und per Standortverfolgung von Google Maps auf dem Fahrrad Muster in die Karte zu zeichnen - bis er eines Tages Odile begegnet. Die Liebe der beiden scheint so perfekt, dass die Frage, wie und warum sie endet, durch die Erzählung nicht wirklich befriedigender beantwortet wird, als sie zu Beginn des Romans schon offen ist. Odile bekommt einen Studienplatz in London, Arnold bleibt zurück. Sie schreiben sich immer seltener, er fährt sie nie besuchen.
Hier wird die Analog-Digital-Hybridisierung, die völlige Ver(nutzer)oberflächlichung der Welt kurzgeschlossen mit der emotionalen Schluffigkeit der Spätadoleszenz. Die Frage, warum zwei Menschen, deren gemeinsames Leben - wie das der meisten heutigen Menschen ihres Alters - ohnehin schon überwiegend online stattfindet, es nicht schaffen, auf ebendiese Weise auch ihre Liebe aufrechtzuerhalten, scheint darauf hinzuweisen, dass eben doch ein fundamentaler Unterschied zu machen ist zwischen der digitalen Oberflächenform des Lebens und dem analogen Gehalt oder auch Content, der darunter liegt.
Oder besteht damit der eigentliche Unterschied letztlich zwischen der Generation Arnolds, wie auch des Autors, und allen, die spätestens »in den Achtzigern geboren« wurden, »einer Zeit, in der Ironie noch etwas bedeutete, Abgrenzung und Weltgewandtheit vielleicht«? Ohne eine solche Distanzkompetenz gegenüber der Welt jedenfalls scheint Arnold dieser bisweilen recht hilflos ausgeliefert und kann nur punktuell darauf hoffen, »dass er sich wieder in eine für ihn angenehme Neutralität levelte«.
Man fragt sich natürlich auch, was das für das politische Bewusstsein bedeutet - das einer Generation zumal, die gerade die Kindheit hinter sich ließ, als 2005 in Frankreich die Vorstädte brannten, und sich damals, wie Arnold, noch vorstellen konnte, »dem Beginn von etwas sehr Großem beizuwohnen, zum Beispiel dem Ende des Kapitalismus«. Die dann aber feststellen muss, dass letztlich doch alles beim Alten bleibt und politischer Protest sich irgendwann nahtlos mit Tourismus verzahnt.
Denn während Arnold schließlich in Athen Odile Wasserflaschen und Stative hinterherträgt, braut sich in der Hitze der Stadt etwas zusammen, das zwar oberkörperfreie, biertrinkende Engländer begeistert, das aber zumindest politisch völlig folgenlos zu bleiben scheint. Ein Zwischenzustand, den auch der Romantitel ausdrückt, der sich etwa mit Bezug auf den New Yorker Zucotti- oder den Istanbuler Gezi-Park einerseits als Synonym für politischen Protest verstehen lässt - anderseits aber auch für dessen Gegenteil, formuliert im Roman: »Sie sahen Systeme stürzen./ Sie gingen in den Park.« Arnold allerdings geht als Krawallflaneur schließlich seines i-Phones verlustig und wird durch diese unfreiwillige Offline-Phase unverhofft in einen langersehnten Kreativitätsschub versetzt. Es bleibt die Hoffnung auf irgendeine Form der Befreiung wovon auch immer, sei sie von außen kommend - etwa durch Aliens - oder aus der inneren Widerständigkeit, die sich diese herbeiträumt. Aus der Liebe jedenfalls kommt sie nicht. Oder vielleicht doch?
Mit seiner konsequenten Lakonie, der radikal teilnahmslosen Präsenz, die das Virtuelle und Reale ständig durcheinanderfließen lässt, könnte »Park« zumindest vor 1990 Geborenen gehörig auf die Nerven gehen. Aber die dürften sich dabei trotzdem fragen, ob sie damit, wenn schon nicht den, so doch vielleicht einen echten Roman der Gegenwart vor sich haben.
Marius Goldhorn: Park. Suhrkamp, 179 S., br., 14 €.
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