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Wahrheit oder Pflicht?
Der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki will nun mit großer Verspätung Missbrauchsfälle in seinem Erzbistum öffentlich machen - und Konsequenzen ziehen
Was ist nur mit diesem Mann passiert? Als Rainer Maria Woelki im Herbst 2014 nach nur drei Jahren Amtszeit als Erzbischof Berlin verließ, waren diejenigen, die mit ihm zusammenarbeiteten, voll des Lobes. Er sei ein Bischof ohne jede Berührungsangst, habe gezeigt, dass Kirche für alle da sei. Getreu seinem bischöflich-biblischen Wahlspruch: »Nos sumus testes« - »Wir sind Zeugen«. Heute muss gerade das in den Ohren der Opfer seiner Kirche zynisch klingen. Damals aber hat Woelki überzeugt. Er habe immerhin Lesben und Schwule nicht beleidigt oder herabgesetzt, hieß es in Kirchenkreisen.
Sein evangelischer Amtsbruder lobte die ökumenische Zusammenarbeit, etwa das gemeinsame Engagement in der Hilfe für Geflüchtete. Die Berliner Caritas-Chefin hob hervor, Kardinal Woelki habe viel Wert auf Prävention in den Einrichtungen des katholischen Wohlfahrtsverbandes gelegt, damit sexualisierte Gewalt gegen Kinder nicht mehr passiere. Positiv wurde auch aufgenommen, dass er, anders als etwa sein Limburger Amtsbruder Franz-Peter Tebartz-van Elst, nicht im Luxus schwelgte, sondern bescheiden in einer Mietwohnung in Berlin-Wedding hauste. Er wurde so etwas wie der katholische Liebling der Hauptstadtmedien.
Dann aber die Rückkehr nach Köln, wo Woelki 1956 geboren wurde. Seit sieben Jahren ist er nun Erzbischof in seiner Heimatstadt, aber mittlerweile so etwas wie die katholische Hassfigur für ganz Deutschland. Was ist passiert? Hat er in der Hauptstadt allen etwas vorgespielt und war im Grunde immer stockkonservativ und reformunwillig? Zumindest treten jetzt seinetwegen die Gläubigen im Minutentakt aus der römisch-katholischen Kirche aus.
Goldgrube für Anwaltskanzleien
Woelki gilt mittlerweile als größter Vertuscher und Verhinderer der Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in der eigenen Institution. Im September 2018 kündigt er eine eigene Untersuchung der Fälle im Erzbistum Köln an. Es sollten auch Namen genannt werden, betont er. Er beauftragt die Münchener Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW). Dann im März 2020 der Paukenschlag: Die Pressekonferenz zur Vorstellung des Gutachtens wird kurz vorher abgesagt. Die Expertise müsse von der Kölner Kanzlei Redeker Sellner Dahs wegen äußerungsrechtlicher Bedenken geprüft werden, heißt es. Das ist diejenige, die jetzt auch das Missbrauchsgutachten für das Erzbistum Berlin erstellt hat. Betroffene monieren, sie würden bei der Erarbeitung solcher Expertisen generell nicht angehört. Die vermeintliche Aufarbeitung werde wenigen Anwälten überlassen, für die sich die Gutachten zu einem lukrativen Geschäftsfeld entwickelten. Dass das Berliner Gutachten vor allem aus nichtveröffentlichten Seiten besteht, hat übrigens nicht zu einem Aufschrei geführt. Auch die gravierenden Defizite bei der Aufarbeitung in der Evangelischen Kirche werden öffentlich wenig thematisiert. Die Medien scheinen sich allein auf Woelki eingeschossen zu haben.
Das Kölner Erzbistum holt sich zunächst Rat bei der Kölner Kanzlei Höcker. Dann werden noch die Juristen Matthias Jahn und Franz Streng mit der Prüfung des Münchener Gutachtens beauftragt. Im Ergebnis teilte das Erzbistum Ende Oktober mit, das Dokument werde gar nicht mehr veröffentlicht - wegen gravierender »methodischer Mängel«. Die Namensnennungen darin seien nicht rechtssicher, hieß es. Mitglieder des Betroffenenbeirats in Köln ziehen sich unter anderem wegen intransparenter Kommunikation zurück: Sie seien unter Druck gesetzt worden, der Nichtveröffentlichung zuzustimmen. Im Januar 2021 sollen ausgewählte Journalisten dann doch Einblick in das WSW-Gutachten erhalten, aber nur, wenn sie vorher eine Verschwiegenheitserklärung unterzeichnen. Doch der Termin wird abgebrochen. Ein Medienskandal. Dabei sind einzelne Kölner Missbrauchsfälle längst durch Medienberichte bekannt.
Priester gehen auf Distanz
Nicht nur das Kirchenvolk, auch Priester kritisieren Woelki immer häufiger. Der Diözesanrat, also das höchste Gremium der Laien im Erzbistum, nennt die Kölner Vorgänge »die größte Kirchenkrise, die wir alle je erlebt haben«. Sogar der Zentralrat der Katholiken schaltet sich ein. Kardinal Reinhard Marx, einst Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, kritisiert ebenfalls die Zurückhaltung des Gutachtens. Der von der Bundesregierung eingesetzte Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, vermutet, dass Woelki »mit Blick auf Betroffenenbeteiligung, Transparenz und Unabhängigkeit von Aufarbeitung einen massiven Fehler begangen haben könnte«. Der Kölner Diözesanverband des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend fordert Woelki ebenso zum Rücktritt auf wie die Katholische Frauengemeinschaft Deutschlands.
Rücktritte wären das Minimum
Matthias Katsch: Die Kirchen haben bei der Aufarbeitung sexueller Gewalt gegen Kinder versagt
Doch der Kardinal bleibt stoisch. Statt auf Dialog setzt er auf Konfrontation. So wurde nach der Veröffentlichung eines kritischen Positionspapiers die Webseite der Katholischen Hochschulgemeinde Köln gesperrt.
Mit einem neuen Gutachten, das diesen Donnerstag veröffentlicht werden soll, wurde schließlich die Kölner Kanzlei Gercke & Wollschläger beauftragt. Woelki kündigte vergangene Woche an, »wenn nötig«, auch Verantwortliche von ihren Aufgaben zu entbinden. Dies hat Brisanz, weil laut Vorab-Medienberichten im Gutachten nicht nur die Namen straffällig gewordener Priester und bereits verstorbener hoher Würdenträger benannt werden, denen Vertuschung vorgeworfen wird. Sondern es dürften auch die von vier amtierenden Bischöfen auftauchen. So steht der Verdacht im Raum, dass der heutige Hamburger Erzbischof und ehemalige Kölner Generalvikar Stefan Heße sowie die Kölner Weihbischöfe Ansgar Puff und Dominikus Schwaderlapp Vorwürfen sexuellen Missbrauchs gegen Priester nicht oder nicht ausreichend nachgingen. Schwaderlapp war von 2004 bis 2012 Generalvikar von Woelkis Vorgänger Joachim Meisner.
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