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Neue Männer braucht die Welt
Der Geschlechterforscher Matthias Luterbach und der Psychologe Markus Theunert im Gespräch über Rollenbilder und die geschlechterreflektierte Arbeit mit Jungen, Männern und Vätern
Sie kommen aus unterschiedlichen Berufen. Wie können Männerarbeit und Gender Studies voneinander profitieren?
Luterbach: Gender-Forschung beschäftigt sich mit der herrschenden Geschlechterordnung. Sie geht meist aus von feministischen Fragestellungen. Aus dieser Perspektive konnte auch anders auf Männlichkeit(en) geschaut werden. Viele Männer fanden so die Möglichkeit, die mit ihrer Rolle verbundenen Zumutungen und Leiderfahrungen kritisch zu thematisieren.
Matthias Luterbach, geboren 1986, ist Assistent und Doktorand im Fachbereich Gender Studies der Universität Basel. Einer seiner Arbeitsschwerpunkte sind Familien- und Geschlechterverhältnisse – mit besonderem Fokus auf Männlichkeit.
Markus Theunert, geboren 1973, ist Leiter des Schweizerischen Instituts für Männer- und Geschlechterfragen, der Fachstelle des Dachverbands maenner.ch. Zudem leitet er das landesweite Programm MenCare Schweiz zur Stärkung von Vätern.
Kritische Männerarbeit startete mit dem Anspruch, eigene Möglichkeiten der Lebensgestaltung jenseits der vorherrschenden Männlichkeitsnormen zu entwickeln. Es gibt also Schnittpunkte, Probleme und Fragestellungen, die sich aus der täglichen Praxis entwickeln, aber auch die Forschung inspirieren und auf Veränderungen hinweisen, die wissenschaftlich noch wenig betrachtet wurden.
Theunert: Unsere unterschiedlichen Kontexte haben wir in der Zusammenarbeit stark gespürt. Matthias Luterbach ist Geschlechterforscher, ich bin Psychologe, er arbeitet an der Universität, ich in einer Nichtregierungsorganisation. Wir mussten Brücken bauen, das fand ich anstrengend und fruchtbar zugleich. Wir wollten die praktische Männerarbeit auf ein geschlechtertheoretisches Fundament stellen. Dafür braucht es Verständigungswillen, die Bereitschaft, bei Differenzen genau hinzuhören und eigene Perspektiven und Prämissen zu hinterfragen.
Sie beziehen sich auf das »männerpolitische Dreieck«, das der US-amerikanische Soziologe Michael Messner entwickelt hat. Können Sie dieses Konzept erläutern?
Theunert: Wenn Männer sich für Gleichstellung engagieren, findet das stets in einem Spannungsfeld statt: Einerseits sind sie noch immer privilegiert in einem patriarchalen System, gleichzeitig aber leiden sie unter dem, was dieses an Männlichkeitsnachweisen einfordert. Leistung immer und überall oder die Bereitschaft zur Selbst- und Fremdausbeutung beispielsweise. Sollen sie in dieser Situation Privilegien oder Leiden in den Vordergrund stellen? Das ist die zentrale, aber schwierige Frage für Männer im Gleichstellungsprozess: Wie stark sind sie feministische Unterstützer, und wie stark dürfen und können sie eigenständige männerpolitische Akteure sein? Weil das nicht einfach auflösbar ist, braucht es einen balancierten Umgang, dafür bewähren sich diese Dreieckskonzepte.
Messner schlägt vor, Kosten und Privilegien traditioneller Männlichkeit zu beleuchten wie auch die Unterschiede innerhalb der sozialen Gruppe »Männer«. Wir haben daraus das Konzept der dreifachen Anwaltschaftlichkeit abgeleitet. Es besagt, dass progressive männerpolitische Akteure mehrere Rollen zugleich wahrnehmen sollten: Sprachrohr männlicher Anliegen und Verletzlichkeiten, Unterstützer von Frauen und Teil einer größeren Allianz, die »Equality for all gender« fordert. Gleichstellung so verstanden ist untrennbar mit dem Ringen um soziale Gerechtigkeit verbunden.
Inwiefern haben intersektionale Fragestellungen bei der Entwicklung des Orientierungsrahmens eine Rolle gespielt?
Luterbach: Intersektionalität war insofern zentral, als dass wir immer wieder über eigene implizite Annahmen und Vorstellungen kritisch reflektiert haben. Was wir aber nicht leisten, ist eine zielgruppenspezifische Herangehensweise. Ich finde das auch schwierig, ohne Stereotypen zu reproduzieren. In der Schweiz wie in Deutschland lassen sich weiterhin hegemoniale Vorstellungen von Männlichkeit feststellen.Ein Beispiel ist die Anforderung, eine Familie zu ernähren. Ein weiteres ist der wachsende Anspruch, ein moderner Vater zu sein, der sich Zeit für seine Kinder nimmt. Solche Normen kennen mehr oder weniger alle Männer, auch wenn sie daraus unterschiedliche Schlüsse ziehen, unterschiedliche Praxen entwickeln und aus unterschiedlichen Realitäten darauf schauen.
Theunert: Der Schweizer Dachverband maenner.ch betrachtet es als seine Mission, geschlechterpolitisch wenig reflektierten Cis-Männern (cis bezeichnet die Übereinstimmung von Geschlechtsidentität und dem Geschlecht, das einer Person bei der Geburt zugewiesen wurde, die Red.) eine Brücke in den Gleichstellungsprozess zu bauen. Zielgruppe sind in dieser Perspektive nicht Mehrfachbenachteiligte, sondern Mehrfachprivilegierte. Damit handeln wir uns aber ein Problem ein, das nicht unterschlagen werden darf: Denn wenn wir Letztere ansprechen, ohne sensibel für Erstere zu sein, leisten wir einen Beitrag zur Zementierung von Machtverhältnissen. Dann laufen wir einmal mehr Gefahr, Mainstream-Männer sichtbar und alle anderen unsichtbar zu machen.
Was meint »geschlechterreflektiert« in Bezug auf Männerarbeit und Männerpolitik? Und wie steht diese zu maskulinistischen Strömungen?
Luterbach: »Reflektiert« meint, dass die Geschlechterordnung nicht »natürlich« gegeben ist. Es war und ist eine Herrschaftsordnung, das gefällt jenen nicht, die gerne an dieser festhalten wollen. Für die Männerarbeit wie auch für die Gender-Forschung ist das ein Problem, das sich noch verschärfen könnte. Gerade wenn man auf eine progressive Veränderung zielt, kann man nicht ignorieren, dass es Bevölkerungsgruppen gibt, die das gar nicht wollen. Hier könnte die Männerarbeit vermehrt zu einem Dialog beitragen.Der Orientierungsrahmen kann vielleicht Unterstützung geben, zugewandt und empathisch zuzuhören, welche Vorstellungen von Geschlecht das Gegenüber hat. Auch maskulinistische Positionen fallen ja nicht vom Himmel. Vieles, was diese Akteure vertreten, ist Teil bürgerlicher Werthaltungen, die überspitzt dargestellt werden. Es ist zu einfach, dem nur mit Unverständnis zu begegnen. Gleichzeitig gilt es, eine eigene progressive Haltung zu entwickeln und dezidiert einzunehmen.
Theunert: Der Orientierungsrahmen will ein Dach über die Vielfältigkeit der Jungen-, Männer- und Väterarbeit spannen. Konkret bedeutet das eine Verbindung profeministischer und emanzipatorischer Strömungen. Es handelt sich aber bewusst auch um ein Instrument, das fachliche Abgrenzung vornimmt und inhaltlich begründet. Männerrechtlerische, biologistische und antifeministische Ideologien sind aus unserer Sicht unvereinbar mit dem Anspruch, geschlechterreflektiert zu sein.
Wir verstehen darunter eben die Bereitschaft, Männlichkeit als etwas Veränderbares zu verstehen. Auch Männer werden nicht als Männer geboren, sondern zu Männern gemacht. Das steht in völligem Widerspruch zur zentralen Prämisse der Anti-Genderisten, wonach Männer (und Frauen) nun mal einfach so sind wie sie sind - und deshalb jede Geschlechterreflexion angeblich ohnehin unnütz und widernatürlicher Zwang ist.
Welchen Rat geben Sie den in der Männerarbeit Aktiven? Im Untertitel des Buches ist von Fachleuten die Rede, können auch Laien oder sporadisch Interessierte etwas daraus lernen?
Theunert: Das Buch ist kein Ratgeber, sondern stellt ein Referenzkonzept vor, auf das man Bezug nehmen und an dem man sich abarbeiten kann. Wir liefern keine Landkarte mit eingezeichneten Wegen, sondern einen Kompass, um den passenden Weg selbst zu finden.
Das Buch richtet sich grundsätzlich an alle Interessierten und ist so geschrieben, dass es verständlich und lesbar ist. Es richtet sich insofern an Fachleute, als dass es klar formuliert, wie viel und welche Geschlechterreflexion Teil jeden fachlichen Handelns in der Männerarbeit sein sollte. Wer das Buch aus persönlicher Neugierde liest, kann das Konzept der dreifachen Entwicklung aber auch auf sich selbst anwenden.
Sie sind Autoren aus der Schweiz. Sind Ihre Erkenntnisse auf Deutschland und Österreich übertragbar, vielleicht sogar darüber hinaus?
Theunert: Die Männerarbeit ist im deutschen Sprachraum ähnlich gewachsen; sie hat ihre Wurzeln in der Männerbewegung und Männergruppenkultur der 80er Jahre. Im Vergleich zum angelsächsischen Raum ist deshalb dieses programmatische Zweifache völlig unbestritten: der Wunsch, als Männer sowohl die Frauenemanzipation zu unterstützen wie auch Verantwortung für männliche Emanzipation zu übernehmen. Wir hoffen auf Impulse über die Landesgrenzen hinaus.
Markus Theunert und Matthias Luterbach: Mann sein ...!? Geschlechterreflektiert mit Jungen, Männern und Vätern arbeiten. Ein Orientierungsrahmen für Fachleute. Beltz Juventa, 156 S., br., 19,90 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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