• Kultur
  • Umgang mit dem NS-Erbe

Erben in Deutschland

Über die Kontroverse um die Buchhandlung »She Said« und die Debatte über Nazierbe.

  • Jeja Klein
  • Lesedauer: 6 Min.

Seit die Künstlerin Moshtari Hilal und die*der politische Geograph*in Sinthujan Varatharajah in einem Instagram-Talk über »Deutsche mit Nazihintergrund« diskutierten, ist eine Kontroverse um den Umgang Linker mit dem finanziellen Erbe aus der Nazizeit entbrannt. Im Zentrum der Debatte steht der neu eröffnete queerfeministische Buchladen »She Said« in Berlin-Neukölln. Die Gründerin, Emilia von Senger, wurde in verschiedenen Zeitungen sehr wohlwollend mit ihrem Vorhaben porträtiert, auch im »nd«.

Die Bücherenthusiastin, deren adelige Herkunft bereits am Namen erkennbar ist, erwähnte in ihren Interviews jedoch nur am Rande, dass sie die Eröffnung aus einem nicht näher erwähnten Erbe finanziere. Hilal und Varatharajah recherchierten die Familiengeschichte von Sengers und fanden einen Großvater und einen Urgroßvater, die mit der Wehrmacht unter anderem an den Überfällen auf Polen und die Sowjetunion beteiligt waren. Fridolin von Senger und Etterlin kommandierte die 17. Panzerdivision bei Rostow am Don und wurde zum General befördert. Sein Sohn Ferdinand war gegen Ende des Krieges im Oberkommando des Heeres tätig. Nach dem Krieg gingen beide nahtlos zur Bundeswehr über und bekleideten hohe Posten.

Emilia von Senger hat sich in einer Stellungnahme dazu bekannt, nicht korrekt mit ihrer Familiengeschichte umgegangen zu sein. Das Geld jedoch stamme nicht aus diesem Teil der Familie, betont sie. Es sei im Wesentlichen nach dem Krieg vom Großvater mütterlicherseits durch die »Ruhr Nachrichten« akkumuliert worden. Diese Zeitung allerdings wurde vor und nach dem Krieg vom Urgroßonkel von Sengers geführt, der ebenfalls in der Wehrmacht gewesen ist. Also gibt es auch auf dieser Seite der Familie Verstrickungen. Von Senger erntete für diese Stellungnahme Zuspruch, aber auch harschen Widerspruch. Dass ihr in der Debatte verschiedene Kommentator*innen teilweise von rechtsaußen demonstrativ zur Seite sprangen, dürfte von Sengers Lage nicht verbessert haben.

Doch um den Fall von Senger zu verstehen, ist ein Blick in die Geschichte nötig: nicht nur in die der Verbrechen, sondern auch des Unwillens nach 1945, angemessene Restitutionen zu leisten. Der Historiker und Publizist Erich Später, Geschäftsführer der Heinrich-Böll-Stiftung im Saarland, hat sich mit NS-Kontinuitäten insbesondere im Zusammenhang mit den Vertriebenenverbänden und ihrer politischen Integration in die Bundesrepublik beschäftigt. Im Gespräch mit »nd« weist er auf die sehr entschlossenen Bemühungen von Profiteuren von Raub und Enteignung hin, ihre Besitztümer auch nach dem Krieg gegen Ansprüche der Hinterbliebenen abzusichern. Dass die US-Amerikaner*innen in der frühen Bundesrepublik die Beweislast umgekehrt haben und allen Besitzer*innen von fraglichen Gütern auferlegten, die Rechtmäßigkeit ihres Besitzes zu beweisen, habe damals zu massiven politischen Widerständen bei den Deutschen geführt.

In der Folge konnten Organisationen wie die Jewish Claims Conference jedoch solche Restitutionen in Gang bringen. Doch die Deutschen wussten sich zu »wehren«: es kam sogar zu staatlichen Entschädigungen von »Opfern« der Restitutionen, also derjenigen, die jüdisches Eigentum rückerstatten mussten. 1969 haben Mitglieder einer Lobby der Enteignungsprofiteure beispielsweise 600 Millionen D-Mark erhalten, worüber nicht mehr gern geredet wird. »Das ist einfach zu schmierig und es zeigt, wie mächtig diese Nazilobbys waren«, sagt Später. Für die Opfer und Hinterbliebenen, die sich nicht etwa in Israel oder den USA befanden, sondern in den entstehenden »realsozialistischen« Staaten im Osten, war die Situation jedoch noch viel schlimmer. Hier hatten Wehrmacht und SS besonders gewütet - und hier waren auch der Großvater und Ur-Großvater von Emilia von Senger mit der Wehrmacht eingesetzt.

Doch was tun mit diesem politischen wie finanziellen Erbe? Später weist auf Bemühungen etwa der ehemaligen Vizepräsidentin des Berliner Abgeordnetenhauses Hilde Schramm hin. Sie hatte in ihrer Zeit als Abgeordnete der Grünen für eine bessere Versorgung der Opfer des Nationalsozialismus gestritten. Schramm formulierte Anfang der 2000er Jahre einen Vorschlag: Wenn man Eigentum habe, dessen genaue Herkunft in der Verstrickung mit der NS-Zeit nicht zu klären sei, solle man die Werte an Initiativen spenden, die diese an Hinterbliebene der NS-Verbrechen übertragen.

Im Verein »Kontakte« setzt sich Schramm außerdem für Überlebende der Kriege im Osten ein, macht auf ihre Situation aufmerksam und bemüht sich auch materiell um Unterstützung. Doch die Versuche des Vereins, finanzielle Wiedergutmachungen der Bundesrepublik für sowjetische Opfer der Kriegsgefangenschaft der Wehrmacht zu erzielen, haben keine politischen Mehrheiten im Bundestag gefunden.

Bis heute hat sich daran nichts geändert. Dabei sind mehr als die Hälfte der rund 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen allein in den Lagern aufgrund der nationalsozialistischen Rassen- und Eroberungspolitik umgekommen. Der Rest trug entsprechende körperliche und seelische Schäden davon. Das ist eine ungeheure Zahl von Menschen, die unmittelbar Opfer der Verbrechen geworden sind - ohne Entschädigung. Und wenn die Deutschen in diesen Gebieten Besitztümer nicht niederbrannten, nahmen sie sie häufig an sich.

Auch innerhalb der Linken habe es Jahrzehnte gedauert, erzählt Später, bis das Thema des eigenen Profitierens vom Nationalsozialismus durch die Herkunftsfamilien aufgekommen ist. Er erinnert in diesem Zusammenhang auch daran, dass die damalige Linke sich sogar in Kampagnenarbeit gegen Wiedergutmachungszahlungen an jüdische NS-Opfer in Israel gewandt habe. Doch natürlich sei es auch schwer, mit dem Erbe umzugehen. Ein Teil dieses Erbes seien etwa die Renten, die Angehörige von Wehrmacht und SS trotz der Verbrechen erhalten - beschlossen in der Bundesrepublik und bis heute ausgezahlt. Insofern lässt sich die zu tragende Verantwortung nicht allein an den Taten von Nazis festmachen.

Das bringt Später auch zum von Varatharajah und Hilal in den Diskurs eingebrachten Begriff der »Deutschen mit Nazihintergrund«. Der Vorschlag sei problematisch, weil der Ausdruck »Nazi« längst als Universalisierung alles Bösen verwendet werde und deshalb nicht mehr funktioniere: »Er ist zu schwach.« Vielmehr müsse der spezifische deutsche Nationalismus angesprochen werden, der durch seine Blut-und-Boden-Ideologie eine Kultur der Ungleichheit etabliert habe. Ein Erbe dieser Kultur liege auch im Staatsbürger*innenschaftsrecht, das noch immer nicht frei vom im 19. Jahrhundert etablierten Blutsprinzip ist. Noch heute litten etwa Migrant*innen unter diesem viel älteren Nationalismus. Die Beteiligung an und Profitierung von der Arisierungspolitik der Nazis hatte eben nicht zur Voraussetzung, selber Nationalsozialist*in zu sein.

Dass die geäußerte Kritik die Buchhändlerin Emilia von Senger jedoch so persönlich getroffen habe, sei laut dem Historiker schwierig. Man wolle dabei vor allem die individuelle Moral betrachten: »Menschen machen ihre eigene Lebensgeschichte zwar selbst, aber sie machen es nicht aus freien Stücken«. Die Absicht, mit ihrer Buchhandlung für Gleichberechtigung, Feminismus und gegen Diskriminierung einzutreten, ist tatsächlich »ein Akt der Übernahme persönlicher Verantwortung«, wie von Senger es in ihrer Stellungnahme dargestellt hat. Wolle man eine individuelle Schuld nachweisen, müsse man jedoch detaillierter zeigen, wo Reichtümer herkämen, denn: »Wenn alle davon profitieren, profitiert niemand davon«. Was Varatharajah und Hilal dargestellt hatten, ist jedoch auch sehr fundiert. Deswegen müsse man laut Später nun von Senger und Etterlin Zeit zum Durchatmen geben, »damit sie sich noch mal mehr in ihre Familiengeschichte hineinbegeben kann«.

Viele Genozide der Geschichte funktionieren dem Historiker Erich Später zufolge genau dadurch, dass die Bevölkerungen an der Beute beteiligt worden seien. Seit den 50er Jahren wiederum ist in der Bundesrepublik politisch versucht worden, die Kosten des Krieges so gering wie möglich und damit den Profit in deutscher Hand zu halten. Was die linke Verantwortungsübernahme angeht, stellt Später auch klar: »Die DDR hat eine Rückerstattung jüdischen Eigentums komplett abgelehnt.« Auch in der Linken habe eben lange Zeit die Vorstellung geherrscht, die Arbeiter*innenklasse sei das erste Opfer der Nazis gewesen, die Bewegung somit aus der Verantwortung entlassen.

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