- Politik
- Corona in Chile
Der unzerstörbare Gesundheitssektor
Gewerkschaften ist es zu verdanken, dass das Krankenhaus- und Versorgungssystem im neoliberal regierten Chile nicht zusammenbricht
Stolz führt uns Joaquín Ilabaca durch die Grundschule Frankfort, neben ihm die Schuldirektorin. Sie ist froh, dass zum ersten Mal seit einem Jahr die kleine Schule wieder von Leben erfüllt ist. Doch die Schüler*innen fehlen bis heute, denn in Frankfort wird geimpft und das im Eiltempo. Joaquín Ilabaca ist der Gesundheitsdirektor für die öffentliche Gesundheitsversorgung der Gemeinde San Joaquín, eines Stadtteils von Santiago mit etwa 100 000 Einwohner*innen. In Chile kümmern sich die Gemeinden um die Erstversorgung. Nur Spitäler sind in der Hand des Zentralstaates. Mit einem Lächeln unter seiner Maske erzählt er: »Wir impfen schneller als der offizielle Fahrplan, bis zu 2000 Personen täglich.« Geht das so weiter, würden innerhalb von 50 Tagen alle Personen der Gemeinde durchgeimpft.
Alle Welt schaut in das bevölkerungsarme Chile und bewundert das Tempo beim Impfen. Mitte März hatten bereits knapp fünf Millionen Personen ihre erste Dosis erhalten. Das ist mehr als ein Viertel der Bevölkerung. Die Covidbekämpfung in dem Land ist aber längst keine Erfolgsgeschichte. Bis Dezember vergangenen Jahres war Chile vor allem wegen seiner desaströsen Gesundheitspolitik bekannt. Krankenhäuser waren monatelang überfüllt, Zahlen wurden gefälscht und soziale Proteste dominierten die Nachrichten. Die Regierung unter Präsident Sebastián Piñera kam in Umfragen gerade einmal auf sechs Prozent. Nicht einmal die rechte Stammwähler*innenschaft war zufrieden.
»Der Erfolg Chiles bei der Beschaffung der Impfdosen wird nicht zuletzt auf die offene und globalisierte Wirtschaft des Landes mit zahlreichen Freihandelsabkommen zurückgeführt - für Chile erwies sich also just jenes Modell als Vorteil, das in den vergangenen Monaten unter Beschuss stand«, behauptete Ende Februar die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«. Die Regierung habe sich mit der Impfkampagne erfolgreich einen Rettungsring zugeworfen. Doch das ist nicht alles. »Wir haben es in erster Linie unseren Forscher*innen und Universitäten zu verdanken, dass wir früh an Impfdosen kamen«, berichtet die Präsidentin der Ärzt*innenkammer, Izkia Siches, gegenüber »nd«. »Sie haben früh Kontakte hergestellt und mit Studien in Chile begonnen, nur so konnten später auch die Impfdosen bestellt werden.« Der Regierung sei dabei nur zu verdanken, nicht ausschließlich auf europäische und US-amerikanische Produzent*innen gesetzt zu haben und eine hohe Liquidität zu gewährleisten. Der Preis spielt kaum eine Rolle. Es gibt keine Gefahr, in Zahlungsschwierigkeiten zu geraten, wie das etwa beim Nachbarn Argentinien der Fall ist.
Die Impfkampagne wird von den Gemeinden und ihren lokalen Gesundheitsdiensten übernommen. »Wir bekommen regelmäßig neue Impfdosen und müssen dafür sorgen, diese rechtzeitig zu verteilen«, erklärt Ilabaca. Die Regierung gibt nur einen Fahrplan vor, welche Berufs- und Altersgruppen wann in ein Impfzentrum kommen sollen. Dies funktioniert gut, weil Chile eine Impftradition hat. Alljährlich wird rund ein Drittel der Bevölkerung gegen die Grippe geimpft. Die Menschen warten auf den Beginn der Kampagne und gehen nach Ankündigung selbstständig zu den Zentren.
Diesmal sind es deutlich mehr. Gut 35 Millionen Impfdosen hat sich der chilenische Staat gesichert, der größte Teil kommt vom chinesischem Hersteller Sinovac, der über die Universidad Católica de Chile eine Studie durchgeführt hat. Es sind genügend Dosen, um der gesamten Bevölkerung zwei Spritzen zu verabreichen. Seit Anfang März bekommen die über 65-Jährigen ihre zweite Dosis. Am 19. März waren bereits die chronisch Kranken im Alter von 16 bis 21 Jahren an der Reihe. Und zwischendrin bekommen bestimmte wichtige Berufsgruppen ihre Dosis. Bis zum 5. März bekam beispielsweise das gesamte Lehrpersonal seine erste Impfung.
Doch in Chile ist längst nicht alles gut. »Wir sind körperlich am Ende. Unser Personal gibt seit einem Jahr das Beste. Heute müssen wir uns zusätzlich zu steigenden Fallzahlen auch noch um die Impfung kümmern. Das funktioniert nur, wenn unzählige Überstunden abgeleistet werden«, erklärt eine sichtlich erschöpfte Präsidentin der Gewerkschaft der Arbeiter*innen des gemeindeeigenen Gesundheitssektors, »doch wir machen unsere Arbeit aus Leidenschaft und Verantwortungsbewusstsein.« Gabriela Flores bekleidet seit drei Jahren das höchste Amt ihrer Gewerkschaft. Die kleine, ältere Frau sitzt in einem Gewerkschaftsbüro im Zentrum von Santiago. Ihre Augen strahlen Entschlossenheit und Energie aus. Seit den 1980er Jahren arbeitet sie im Gesundheitssektor. Damals wurde unter der Diktatur von Augusto Pinochet die Erstversorgung im Gesundheitswesen den Gemeinden übertragen. Ziel war es, das öffentliche System zu schwächen und zu privatisieren. »Wir haben bereits in den 80er Jahren eine landesweite Gewerkschaft gegründet, die unabhängig vom Dienstgrad vom Putzpersonal bis zur Ärztin das gesamte Gesundheitspersonal der Gemeinden organisiert. Heute haben wir über 45 000 Mitglieder und erreichen bei Streiks eine Durchsetzung von mindestens 95 Prozent«, erzählt Flores stolz. Dank dieser Schlagkraft, so ist sich Flores sicher, konnten etwaige Privatisierungsanläufe verhindert werden. »Wir haben es geschafft, wieder als Staatsangestellte anerkannt zu werden und wir haben erreicht, dass mehrere Tausend Arbeiter*innen einen unbefristeten Vertrag haben. Wir sind die Frontlinie, wenn es um die Aufrechterhaltung der öffentlichen Gesundheit geht. Wir sind in jeder Ortschaft von Arica bis nach Magallanes vertreten.«
Wie die öffentliche Erstversorgung im Fall von San Joaquín aussieht, berichtet Ilabaca. »Wir haben in der Gemeinde drei Cesfams, sogenannte Zentren für Familiarmedizin. Das sind Gesundheitszentren mit vielen Spezialitäten für die medizinische Erstversorgung. Das kleinste Zentrum hat um die 24 000 eingeschriebene Personen. Zusätzlich haben wir mehrere kleinere Praxen, die an ein größeres Zentrum angeschlossen sind. So ist es möglich, dass keine Person länger als 15 Minuten zu einem Gesundheitszentrum laufen muss.« Seit 1993 erhalten die Gesundheitszentren einen Beitrag der staatlichen Krankenkasse, rund elf Euro pro Monat und Person. In San Joaquín sind um die 90 Prozent der Einwohner*innen in einem Gesundheitszentrum eingeschrieben. Der Rest lässt sich über die privaten Krankenkassen behandeln. Auf nationaler Ebene sind es 17 Prozent. Allerdings hat das öffentliche System nur etwa die Hälfte der insgesamt aufgewandten finanziellen Mittel. »Um richtig funktionieren zu können, bräuchten wir um die 15 Euro pro Person und Monat«, erklärt Ilabaca. Das fehlende Geld bekommt der Gesundheitsdienst derzeit zum Teil in Form von Subventionen durch die Gemeinde. Andere Dienstleistungen können nicht angeboten werden oder haben sehr lange Wartelisten. Wie konnte ein solcher Sektor eine so umfangreiche Impfinfrastruktur aufbauen? Ilabaca meint, dass sowohl die Gemeinde als auch der Staat über zusätzliche Gelder gesprochen haben. »Es reicht aus. Wir kommen gut voran und haben in diesem Zusammenhang keine Finanzschwierigkeiten.«
Flores sieht dies kritischer. Sie erinnert sich an den Anfang der Pandemie. »Zu Beginn hat die Regierung eine katastrophale Gesundheitspolitik gemacht. Trotz genügend Know-how und Erfahrung aus Europa setzte sie lediglich auf eine Erhöhung der Kapazitäten in den Krankenhäusern. Über Monate wurden weder der Mehraufwand noch die Kontaktnachverfolgung, welche die lokalen Gesundheitsdienste aufbauten, durch die Regierung unterstützt.« Erst als der Gesundheitsminister im Juni ausgewechselt wurde, wurden die Gemeinden in die Pandemiebekämpfung aktiv einbezogen.
Mittlerweile sind mehr als 21 000 Menschen in Chile mit oder am Coronavirus gestorben. Flores zählt 21 Personen aus dem Gesundheitsbereich und fügt an, dass unzählige Personen immer noch erkrankt sind, an Burnout leiden oder aufgrund von Vorerkrankungen und Sicherheitsbestimmungen nicht arbeiten können. »Derzeit arbeitet nur die Hälfte des eigentlichen Personals«, fügt sie an. »Wir sind am Limit«, betont die Gewerkschaftspräsidentin, »seit einem Jahr geben wir unser Maximum.« Im April steht neben der Impfkampagne gegen das Coronavirus auch die alljährliche Grippeimpfung an. »Wie wir das bewältigen sollen, weiß niemand.«
Auch Izkia Siches, die Vorsitzende der Ärzt*innenkammer, ist zurückhaltend. »Es stimmt nicht, dass die Impfkampagne ohne Personalschwierigkeiten abläuft. Personal musste aus anderen Bereichen abgezogen werden. Alle Gesundheitszentren konzentrieren sich auf die Kampagne und so gibt es Bereiche, die nicht mehr betreut werden.« Sie kritisiert, dass nicht genügend Ressourcen vom Zentralstaat an die Gemeinden weitergeleitet wurden. Ein Blick auf die Situation in der Grundschule Frankfort zeigt genau das. Ein impfender Krankenpfleger ist im Praktikum, andere erzählen, sie arbeiten sonst in Pflegeheimen oder Gesundheitszentren. Es ist also ein wild zusammengewürfeltes Team, das trotz allem sein Bestes gibt.
Die Impfkampagne zeigt, dass Chile trotz 40 Jahren neoliberaler Reformen immer noch eine solide staatliche Grundversorgung besitzt, die weitaus schneller impfen kann als viele Länder Europas. Chile steht gleichzeitig kurz vor einem verfassungsgebenden Prozess. Nach monatelangen Protesten wollen viele das neoliberale Erbe hinter sich lassen und den Sozialstaat stärken. Joaquín Ilabaca, Izkia Siches und Gabriela Flores sehen dies als eine Möglichkeit, die öffentliche Gesundheitsversorgung zu stärken. Das in Chile angewandte Gesundheitssystem mit seinen lokalen Zentren wurde ursprünglich in der Sowjetunion entwickelt und Mitte des 20. Jahrhunderts in ganz Lateinamerika übernommen. Dies geschah auch dank des späteren Präsidenten Salvador Allende, der von 1938 bis 1941 Gesundheitsminister war. Der Sozialist war während des Militärputschs 1973 in den Suizid getrieben worden. »Heute ähnelt das System dem in Kuba und beweist sich in der Praxis als bürger*innennah und effizient. Es muss einzig gestärkt werden«, meint Flores.
Doch Ilabaca warnt, dass »die Regierung derzeit in die andere Richtung geht«. Anfang März wurde ein Gesetzesprojekt ins Parlament gebracht, das die staatliche Krankenkasse praktisch privatisieren soll. Dies würde bedeuten, dass die öffentliche Gesundheitsversorgung nur noch nach Leistung bezahlt werden könnte. Ilabaca hält inne. Er spreche jetzt nicht mehr als Direktor, sondern als Dozent des Instituts für öffentliche Gesundheit der Universidad de Chile. »Mit solchen wichtigen Reformen sollten wir bis nach dem verfassungsgebenden Kongress warten. Bis der Geist der öffentlichen Gesundheitsversorgung definiert ist.«
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.