• Berlin
  • Kinder- und Familienarmut

Kopf hoch auf der Schotterpiste

Lichtenberg stellt Modellprojekte gegen Kinder- und Familienarmut vor

  • Claudia Krieg
  • Lesedauer: 3 Min.

Es ist ein fröhlicher Ort, um über Kinderarmut zu reden: gleich am S-Bahnhof Hohenschönhausen, nicht weit entfernt vom Brunnen der Jugend und hinter dem Einkaufspark Lindencenter, steht seit Februar ein rot-gelb-blaues Zirkuszelt. »Nein, es wird kein Impfzentrum«, habe er manchen Fragenden in den letzten Wochen entgegnen müssen, sagt Torsten Schmidt vom Kinder- und Jugendzirkus Cabuwazi lachend am Donnerstagmorgen. Sondern der berlinweit sechste Standort vom »Chaotisch bunten Wanderzirkus«, der hier eröffnet wird und an dem sich Kids zwischen sechs und 16 Jahren in 40 Disziplinen ausprobieren können und sollen. Bezahlt hat ihn der Bezirk und er soll ein Beitrag zu mehr kostenlosen kulturellen Bildungsangeboten für Kinder und Jugendliche sein.

Noch sind zwischen den Containern, in denen zukünftig Kostüme genäht und Kulissen gebaut werden sollen, keine Einrad fahrenden und jonglierenden Trapezkünstler*innen im Teenageralter zu sehen - es ist Pandemie und Schulzeit. Stattdessen wird an diesem Tag der 1. Lichtenberger Kinderarmutsbericht vorgestellt. Initiiert hat ihn die vor zwei Jahren bezirklich eingesetzte Fachgruppe Kinderarmutsprävention unter der Leitung von Sandra Born (»nd« berichtete). Er trägt den Titel »Jedem Kind eine Perspektive« und der Tatsache Rechnung, dass jedes dritte Kind im Bezirk zwischen 0 und 18 Jahren von Transferleistungen lebt. Insgesamt sind das über 13.444 Kinder.

Born ist sich sicher, dass es bei zuständigen Stellen wie dem Jugendamt schon immer Bemühungen gegeben habe, das Problem zu bewältigen. Dennoch habe man offene Türen eingerannt: Schon die erste Kinderarmutskonferenz im November 2019 war hoffnungslos überlaufen. Dort hatten sich die vier Arbeitsgruppen der Steuerungsgruppe unter den Stichworten Gesundheit, Teilhabe, Bildung und existenzielle Versorgung zum ersten Mal vorgestellt.

Mittlerweile arbeiten 70 Personen ressortübergreifend und mit zweimonatlichen Treffen an dem Thema - aber nicht wie Sandra Born betont, »um in der Analyse steckenzubleiben«. Vielmehr gehe es darum, die spezifische Armutserfahrung in den verschiedenen Lebensbereichen zu verändern. Dafür werden nun in Lichtenberger Schulen in einem Modellprojekt sogenannte Gesundheitsfachkräfte eingesetzt, die in Notsituationen Schüler*innen versorgen können, ohne dass gleich der Rettungswagen kommen und Unterricht unterbrochen werden muss. Ebenso soll es zukünftig auch Schuldnerberatung an Schulen geben, um Kindern und Jugendlichen zu helfen, sich nicht durch Konsumschleifen in existenzielle Nöte zu bringen. Damit sollen auch die Schulen selbst entlastet werden. Unbedingt müsse die Antragstellung für Leistungen des Bildungs- und Teilhabe-Pakets der Senatsbildungsverwaltung vereinfacht werden, erklärt Born weiter - es handele sich um »ein Bürokratiemonster«. Viele weitere Vorschläge stecken im 120-seitigen 1. Kinderarmutsbericht. Jetzt gehe es an die Umsetzung, für die man auch bereit sei, sich mit alten, sperrigen Strukturen anzulegen, wie es die Expertin sinnbildlich sagt.

»Ich kenne das Gefühl, zu glauben, ich bin weniger wert«, erinnert sich Nicole Trieloff vom Netzwerk Alleinerziehende Lichtenberg an ihre eigene Kindheit. »Aber man ist nicht weniger begabt oder talentiert, man läuft nur nicht auf einer gut gepolsterten Tartanbahn, sondern auf einer Schotterpiste durch die ersten Lebensjahre.« Die Coronakrise habe das Problem, dass Herkunft noch immer über Zukunft entscheidet, verschärft. Die Beraterin berichtet von mehr Trennungen, mehr Frustration, mehr Job- und Wohnungsverlusten. »Ein Jahr Ausnahmesituation durch die Pandemie bedeutet für ein fünfjähriges Kind ein Fünftel seines Lebens, also das, was für einen 50-jährigen zehn Jahre wären«, so die Beraterin.

Auch Bezirksbürgermeister Michael Grunst (Linke) wirbt für mehr Bewusstsein und eine Kindergrundsicherung: Niemanden im Bezirk dürfe es kaltlassen, wenn jedes dritte Kind in Armut lebt. Das zu ändern »braucht es mehr als 2.000 neue Kitaplätze und neue Schulen«, so Grunst.

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