Sucht im Kopf

In der Serie »Pure« sucht eine Frau, die ununterbrochen an Sex denkt, nach Normalität. Dabei lassen die sechs nachdenklich-heiteren Folgen angenehm offen, was das ist - normal.

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Mensch, so lautet eine schwer belegbare, sehr plausible Vermutung, hat durchschnittlich 25 Mal am Tag Gedanken an Sex im Kopf. Frauen angeblich weniger als Männer, Jugendliche mehr als Greise, allesamt am FKK-Strand gewiss häufiger als beim Finanzamt, aber die meisten von uns dürfte Geschlechtsverkehr fast so viel beschäftigen wie Arbeit, Essen, Fußball. Schön wär’s, würde Marnie dazu sagen. Die Schottin denkt schließlich nicht nur ständig an Sex, sondern eigentlich immer.

In den zehn Jahren seit ihrem 14. Geburtstag also exakt 3723 Tage, und zwar so konstant, dass sie selbst die Gäste der Silberhochzeit ihrer Eltern nackt fummelnd vor Augen hat - was definitiv konzentrationsmindernd ist, wenn man zeitgleich die Rede als einziges Kind der Jubilare halten muss. Also beschließt Marnie zu Beginn des Sechsteilers »Pure«, aus der transparenten Provinz in die Anonymität Londons abzutauchen. Ein Tapetenwechsel als Psychotherapie? Neuer Ort, neues Glück? Wie gesagt: schön wär’s …

Denn natürlich kommt alles anders. Natürlich gerät Marnie vom Provinzregen zügig in die Großstadttraufe. Und natürlich verschwindet ihr Problem nicht im Millionenheer fremder Menschen, sondern zeigt nur neue Facetten. Spätestens an dieser Stelle nun könnte Rose Cartwrights Romanvorlage voyeuristisch aus dem Serienruder laufen und anzügliche Zoten repräsentabler Charaktere mit Modelleibern aneinanderreihen. Genau das aber vermeiden die Regisseure Aneil Karia und Alicia MacDonald nach Kirstie Swains Drehbuch allein schon, weil sie meistens weibliche Blickwinkel einnehmen.

Noch wichtiger jedoch, das wird von der ersten bis zur 30 Minute jeder kurzweiligen Folge deutlich, verfügen sie alle abgesehen von Humor, Esprit und Hingabe über eine Extraportion »Wokeness«, wie strukturelle Sensibilität für die Belange von Normabweichungen jeder Art heutzutage heißt. Statt Marnies sexuelle Besonderheit softpornografisch zu bebildern, poppen ihre Visionen stets nur Sekundenbruchteile, also kaum merklich auf. Und sie wird dabei auch nicht von einer wohlproportionierten Beauty mit Influencer-Potenzial gespielt, sondern der verhuscht burschikosen Charly Clive in ihrer ersten Fernsehrolle.

Dort trifft sie zudem auf Schicksalsgenossen wie den pornosüchtigen Charlie, wundervoll blutleer gespielt von Joe Cole (»Peaky Blinders«). Am beachtlichsten aber ist, dass beide nie in die Opferrolle schlüpfen. Trotz eklatanten Mangels an Selbstachtung, drücken sie nach jeder Kollision mit dem Ordnungsdenken der Mehrheitsgesellschaft ihre Rücken etwas grader durch und liefern damit ein hinreißend unterhaltsames Manifest der Diversität. Durch eine - Originaltonfans neigen da zur Wiederholung - fast schon boshaft schlechte Synchronisation rückt es zwar bedrohlich nah an den Rand der Körperverletzung; doch auch auf Deutsch wird das bürgerliche Konstrukt der Normabweichung ohne öliges Toleranzgefasel in Frage gestellt.

»Kannst du einfach ans Telefon gehen und versuchen, normal zu sein?«, sagt eine Kollegin am ersten Praktikumstag bei einem Lifestyle-Magazin zu Marnie und bringt schon darum die Illusion der Normalität zum Ausdruck, weil ihre Kollegin Amber (Niamh Algar) zuvor einen One-Night-Stand mit der Neuen hatte, auf deren Schreibtisch sich auch noch Dildos einer früheren Recherche stapeln. Gewöhnlich ist eben, das lehrt uns »Pure« abseits aller Skurrilität, was der Mainstream dazu erklärt. Umso schöner, dass sich die drei Hauptverantwortlichen der Serie moralisierende Gesten und erhobene Zeigefinger überwiegend sparen.

Auch deshalb darf Marnie zwar vorerst nicht auf Erlösung, aber doch auf ein selbstbestimmtes Dasein, vielleicht sogar mit dem süßen Joe (Anthony Welsh) an ihrer Seite, hoffen. Und auch deshalb lohnt es sich, alle Folgen am Stück zu sehen. Bingewatching heißt diese Seriendruckbetankung. Auch so ein Suchtverhalten. Wenngleich etwas akzeptabler als das von Marnie.

»Pure«, auch im Originalton verfügbar in der Mediathek von ZDFneo.

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