»Meine Musik soll Räume öffnen«

Der Schweizer Pianist Nik Bärtsch über seine Solo-Platte »Entendre« und die Kampfkunst Aikido

  • Jan Paersch
  • Lesedauer: 7 Min.

Herr Bärtsch, Ihre Musik ist schwer zu kategorisieren, sie enthält Elemente von Minimal, Funk und Klassik. Sehen Sie sich eigentlich als Jazzmusiker?

Als Kind hat mich rhythmische Musik fasziniert, ich habe am Schlagzeug begonnen. Was Stile sind, wusste ich nicht. Über Boogie Woogie bin ich dann zum Klavier gekommen, spielte Blues, brasilianische Musik und Chick Corea. Dann kam ich über Gershwin zu Bartok. Ich war nie ein Purist, und bin auch kein klassischer Jazzmusiker, der aus einer bestimmten Tradition kommt. Jazz war eine Leidenschaft, ich haben einfach mit Kollegen irre viele Platten gehört. Gleichzeitig mochte ich immer Pop und Funk. Dann hab ich selber Begriffe für meine Musik geprägt.

Nik Bärtsch

1971 in Zürich geboren, studierte Nik Bärtsch klassisches Klavier, Philosophie und Linguistik. 1997 gründete er die akustische Formation Mobile, 2001 folgte das elektrisch verstärkte Quartett Ronin, dessen Musik er als »Zen Funk« bezeichnet. Beim renommierten Label ECM hat er gerade sein 13. Album »Entendre« veröffentlicht. Im Mai erscheint sein Buch »Listening: Music - Movement - Mind«, eine Textsammlung mit Rhythmus-Übungen sowie Essays über Komposition, Improvisation und die Kampfkunst Aikido. Mit Nik Bärtsch sprach Jan Paersch.

»Ritual Groove Musik« sagen Sie dazu. Was bedeutet das?

Das ist mehr eine Haltung, eine Sicht auf Musik, die mich interessiert. Ich möchte nicht behaupten, ich hätte das erfunden. Sondern eher: Das ist die Art, wie ich mich in der Musik bewege. Dann wollte ich verhindern, dass jemand mangels Wissen »Minimal Jazz« dazu sagt, das wäre mir zu soft gewesen. Und »Jazz« schreckt nun mal viele Menschen ab - die denken an bestimmte Saxofonsoli oder an Swing. Und das hat nichts mit uns tun. Für meine Band Ronin habe ich dann den Begriff »Zen Funk« gefunden. In der Paradoxie der Wörter steckt viel von dem drin, was uns ausmacht. Aber der Jazz hat mich natürlich geprägt. Es ist die einzige Richtung, die ganz bewusst mit Freiheit und Improvisation umgeht und immer wieder fragt: Was ist hier dein Anteil?

Gerade haben Sie mit »Entendre« Ihr erstes Solo-Album seit 20 Jahren veröffentlicht. Wie kam’s?

Ich spiele schon seit vielen Jahren live immer wieder solo. Auf der Platte hört man Ausblicke in die Zukunft, aber auch Aufnahmen alter Stücke, die ich über die Jahre immer wieder mit meinen beiden Bands gespielt habe. Man kann es so hören: So spiele ich im Moment. Es war aber überhaupt nicht der Punkt, zu zeigen, dass ich Klavier spielen kann. Es gab keinen Druck, keinen Willen. Einfach eine inspirierende Studioatmosphäre mit Ingenieur Stefano Amerio und Produzent Manfred Eicher, in der ich mich ambitionslos hingeben konnte. Ich kam wirklich an die Essenz von Struktur und freier Behandlung. Im Weglassen von Dingen liegt eine bestimmte Reife. So ein Solo-Statement spricht eigentlich für sich. Da braucht man nicht viel zu erklären - ich freue ich mich, wenn die Musik redet.

Deutlich mehr erklären Sie in Ihrem neuen Buch »Listening: Music - Movement - Mind«.

Mir ist es wichtig, die Dinge zu verorten und zu schauen, was passiert ist. Das ist nach dem 13. Album vielleicht auch einmal angebracht. Ich wollte mit dem Buch aber vor allem andere inspirieren. Ihnen helfen, ihr Werk zu sichten, ihnen zu sagen, wie sie einfacher auf sich hören können. Das Buch heißt »Listening,« so wie das Album »Entendre« heißt - verschiedene Aspekte des Zuhörens. Ich wollte das umdrehen: Das Buch soll dir zuhören, wenn du es liest. Weil du dann eigene Ideen entwickeln kannst. Wenn du meine Musik hörst, soll sie dich auch nicht mit Bedeutung zumüllen, sondern Räume öffnen.

Es gibt im Buch ein ganzes Kapitel über Comics und Hergés »Tim und Struppi«.

Ich war früh Comicfan. Meine Eltern haben einen künstlerischen Hintergrund. Meine Mutter ist also in den Buchladen gegangen und hat sich »gute Comics« empfehlen lassen, woraufhin ihr die Dame »Tim und Struppi« gezeigt hat. Mit »Der Schatz Rackhams des Roten« begann meine Sucht, ich wurde ein richtiger Sammler. Es gab eine Zeit, in der ich all meine Platten verkauft, aber die Comics behalten habe. Beim Schreiben des Buches habe ich über diesen Einfluss nachzudenken begonnen. Hergés klassischer Stil, die Ligne Claire, hat ein paar essenzielle Strategien, die uns bei der Erarbeitung einer klaren Dramaturgie helfen, sei es bei einem Album oder einem Theaterstück. Diese Art, ein Motiv mit wenigen Strichen hinzubekommen, mit einem bestimmten Spin, hat mir mehr geholfen, als die großen Vorbilder zu studieren.

Sie schreiben auch über die Kampfkunst Aikido, die Sie seit langem praktizieren. Warum haben Sie damit angefangen?

Als ich 27 war, wurde ich in einer Unterführung überfallen. Das Geld war weg, aber zum Glück ist es gewaltfrei abgelaufen. Doch am nächsten Tag hatte ich richtig Angst und war perplex, weil ich nichts unternommen hatte. Ich bin noch am selben Tag in ein Dojo, also einen Trainingsraum, gegangen. Seitdem habe ich nicht mehr aufgehört.

Es geht also um Selbstverteidigung?

Aikido ist weder Kampfsport noch Überlebenstraining, es ist eine Kampfkunst. Es geht um eine Konfrontation mit sich selber, mit der eigenen Rolle in der Gesellschaft. Aikido hat sich eher spät entwickelt, der Gründer hatte nach dem Zweiten Weltkrieg die Idee, dass auch Kampfkunst dem Frieden dienen kann. Das ist paradox, aber es hat mich fasziniert.

Wie funktioniert das konkret?

Es geht darum, einen Angriff dahin zu leiten, wo man möchte. Man möchte den Gegner nicht verletzen, sondern ihn sanft zu Boden begleiten. Es geht um eine Idee und eine Haltung. Unsere Gesellschaft ist es nicht mehr gewohnt, Angriffe entgegen zu nehmen. Wir leben in Demokratien, in denen wir die Gewalt zurückdrängen konnten, und trotzdem explodiert sie manchmal, ohne Erklärung. Was wir auch verlernt haben ist, zu fallen. Wir sitzen auf Stühlen oder gehen, sind aber nie am Boden - im Gegensatz zu vielen asiatischen Ländern. In jedem Training gehst du hundert Mal zu Boden und stehst wieder auf. Das hat mir sehr geholfen, den eigenen Körper besser zu fühlen.

Wie funktioniert die Umleitung eines Angriffs?

Das ist ungeheuer schwierig, ich trainiere das ständig: Nicht gegen einen Angreifer zu gehen oder davonzurennen, sondern in eine Art Yin-Yang zu verfallen. In der Musik spielt das eine riesige Rolle. Wer improvisiert und mit anderen agiert, braucht eine unmittelbare Aufmerksamkeit. Man muss eigentlich schneller hören als sein Schatten. Alles und Nichts erwarten! Dinge, die man nicht mit dem Kopf steuern kann.

Wie hört man so schnell?

Wenn du dich aus dem Zentrum bewegst, geht das auch im hohen Tempo. Beim Musikmachen ist wichtig, sich nicht mit dem eigenen Kopf zu beschäftigen, sondern mit dem ganzen Organismus und dabei mit den anderen verschmelzen. Im Aikido nennt man das »Awase«. In einem Gedicht heißt es: Ich habe keine Ohren, meine fünf Sinne sind meine Ohren. Hören ist unmittelbar. Du darfst nicht aufs Beobachten oder Analysieren kommen.

Was gibt Ihnen persönlich Aikido?

Ich bin jemand, der viel nachdenkt und sehr selbstkritisch ist. Aikido hilft mir, im Moment zu sein, die Dinge auf das Wesentliche zu reduzieren. Das ist ähnlich wie Klavier üben. Eine sehr unmittelbare Beschäftigung mit den Händen.

Mit japanischer Kultur beschäftigen Sie sich schon wesentlich länger, oder?

Schon als Kind habe ich die japanischen Kunstwerke in der Wohnung eines Freundes meines Vaters bewundert. Als ich 14 war, habe ich mich dann ins Kino geschlichen, in den ab 16 freigegebenen »Ran« des legendären Regisseurs Akira Kurosawa. Die blutigen Schlachten waren schockierend, ich bin eigentlich Pazifist. Aber die Energie und Musik darin haben mich fasziniert. Von da an habe ich mich intensiv mit kulturellen Phänomenen aus Japan beschäftigt.

Warum sind Sie stets in schwarz gekleidet?

Schwarz ist für mich die Farbe des Lebens. In Japan ist Weiß die Farbe des Todes. Schwarz ist die Farbe der engagierten Neutralität - und der totalen Präsenz. Ich muss auch nicht überlegen, was ich anziehen soll. Und in solchen Kleidern kannst du sowohl zu einem Empfang gehen als auch deine Instrumente aufbauen.

Was ist das Klavier für Sie?

Das Klavier ist für mich Heimat. Viele Pianisten brauchen ein gutes Instrument, um gut zu spielen, mir reicht eigentlich ein In-strument. Jedes hat seinen eigenen Charakter und seine Geschichte. Wenn ich es berühre und mit den Resonanzen im Kontakt bin, fühle ich mich geborgen. Ich bin dann sofort zu Hause im Universum.

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