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Alle sind Teil des Kapitalismus
Pavel Brunssen über antisemitische Aspekte in der Fankritik am Fußballklub RB Leipzig
Als langjähriger Fan von Werder Bremen kennen Sie die Atmosphäre im Weserstadion, für die Recherche zu Ihrem Buch »Antisemitismus in Fußball-Fankulturen« haben Sie Heimspiele von RB Leipzig besucht. Sind Ihnen beim Stadionerlebnis Unterschiede aufgefallen?
Der Unterschied zwischen Leipzig und allen anderen Erstligastadien, in denen ich war, ist zunächst mal die nettere Atmosphäre dort. Auch als Fan eines anderen Vereins habe ich mich dort willkommen gefühlt. Auf den Tribünen sind mehr Familien, es gibt einen Gebärdendolmetscher auf der Anzeigentafel, viele Kleinigkeiten, die das Stadionerlebnis freundlicher machen. Zudem ist die Stimmung weniger aggressiv. Man kann sich überall dazusetzen, um Teil des Fußballerlebnisses zu sein.
Pavel Brunssen promoviert in German Studies (Schwerpunkt Antisemitismusforschung) an der University of Michigan. In seinem Mitte April erscheinenden Buch »Antisemitismus in Fußball-Fankulturen« behauptet er, dass die Kritik an RB Leipzig zum Teil antisemitische Züge aufweise. Christoph Ruf sprach mit dem 33-Jährigen über die »Sündenbullen«-Funktion, aber auch über den durch Red Bull »kommodifizierten Fußball in seiner extremsten Form«.
Foto: privat
Ist das auch ein Grund für die recht hohe Akzeptanz in Leipzig und Umgebung? RB hat immerhin einen Zuschauerschnitt von rund 40 000.
Ich glaube schon. Ich habe beispielsweise mit einem Leipziger Fußballfan gesprochen, der sein Leben lang zum heutigen Regionalligisten Lok Leipzig gegangen ist. Nachdem er eine Familie gegründet hatte, wollte er dort nicht mehr hin. Er wollte zusammen mit seiner Familie einen schönen Tag verbringen, gemeinsam entspannt Fußball gucken. Dafür schien ihm RB geeigneter.
Vor dem wissenschaftlichen Impuls steht ja oft ein privater. Gab es einen solchen Moment als Auslöser für Ihr Buch?
Ich habe eine Vergangenheit als aktiver Fan und habe mich parallel zu meinem Interesse für Fankulturen wissenschaftlich immer mehr mit Antisemitismus auseinandergesetzt. Die These, dass die Kritik an RB antisemitisch ist, fand ich schon länger interessant. Aber einiges daran hat mir nicht als Erklärungsansatz gereicht. Zum Beispiel bin ich überzeugt, dass die riesige Mehrzahl der Fans, die sich gegen RB engagieren, keine Antisemiten sind - oft sind dies im Gegensatz dazu ja gerade diejenigen Leute, die gegen Rassismus und Antisemitismus offen eintreten. Zudem wird RB Leipzig in keiner der fast 500 von mir untersuchten Quellen als »jüdisch« bezeichnet, dennoch sind die Gegenüberstellungen Tradition - Moderne, Lokalismus - Globalismus typisch antisemitisch.
Deshalb behaupten Sie, es gäbe auch Antisemitismus ohne antisemitische Motivation. Das müssen Sie erklären.
Ich arbeite mit dem Begriff der »antisemitischen Ressentimentkommunikation«. Der Begriff »Ressentiment« ermöglicht mir, auf die Fans zu schauen, die so empfinden. Und über den Begriff der Kommunikation kann ich wiederum von den Personen weg und auf Banner und andere Meinungsäußerungen schauen. Und drittens: Das Adjektiv antisemitisch eröffnet die Frage, inwiefern diese Kommunikation Antisemitisches enthält. Es geht mir nicht um die vermeintliche Intention, mit der etwas gesagt wird, sondern darum, was gesagt wird. Und in ihrer Summe ist die Anti-RB-Kommunikation eben antisemitisch konnotiert.
Tatsächlich werden RB-Fans als Ratten, Heuschrecken oder Unkraut bezeichnet.
»Scheiß RB Leipzig« an sich kann erst mal eine normale Fankommunikation sein - übrigens eine, die ich partiell unterschreiben würde, ich mag den Verein nicht sonderlich. Aber nehmen wir mal die Heuschrecke. Die wurde von den Nazis verwendet, um die Wahnfigur vom gierigen Juden darzustellen, der über die Völker herfällt. Auch ohne antisemitische Intention transportieren diese Metaphern etwas. Im Unterbewusstsein steht der Verein für das, was mit dem antisemitischen Bild gemeint ist.
Das Bild wird aber auch von Gewerkschaften verwandt, um Hedgefonds zu beschreiben, die sich ähnlich wie ein Heuschreckenschwarm verhalten, indem sie die Substanz eines Betriebes aussaugen, weiterziehen und die Arbeitslosen dem Staat überlassen. Muss man auf jede Metapher verzichten, die auch die Nazis verwandt haben?
Auch das ist antisemitisch. Metaphern reduzieren Komplexität. Und Bilder sind nicht unschuldig, schon gar nicht vor dem Hintergrund der langen Geschichte des Antisemitismus. Aber natürlich kommt es auch hier immer auf den Kontext an. In China steht die Ratte für Intelligenz. Da wird eine Rattenmetapher natürlich anders interpretiert als in Deutschland, wo Bilder von Heuschrecken und Ratten zu den historisch am meisten benutzten antisemitischen Metaphern gehören.
Was heißt das für die Kritik an Hedgefonds oder milliardenschweren Konzernen, die keinen Cent Steuern zahlen?
Es bedeutet nicht, dass deren Praktiken nicht kritikwürdig sind. Ich würde es nur ganz im Detail beschreiben, ohne in diese Bilder abzugleiten und ohne schlicht zu personifizieren. Das passiert ähnlich bei RB Leipzig. Anstatt eine kapitalistische Grundstruktur in den Blick zu bekommen, werden die Übel der Kommodifizierung des Fußballs auf einen Verein projiziert wie auf keinen anderen: RB Leipzig.
Heißt: Es gibt genügend Gründe, RB zu kritisieren, es kommt aber auf die Art und Weise an, wie das geschieht?
Ja, im Zuge einer Gesamtkritik des Fußballs ist das absolut geboten. So wie es Düsseldorfer Ultras vor Kurzem in einer Erklärung formuliert haben: Fußball im Kapitalismus ist ein Problem, wenn man faireren Wettbewerb wünscht. Wer das erkennt, braucht die Verschiebung über die Sündenbullen nicht mehr. Und er hört vielleicht auch damit auf, umso gnädiger mit dem eigenen Verein umzugehen je mehr er sich an RB aufreibt. Man kann die Schuldfrage übrigens ja auch umdrehen: Die Jagd nach immer neuen Werbeflächen, der Wille und Zwang, immer noch einen Euro mehr zu machen - dieser ganze Prozess hat den Fußball erst attraktiv gemacht für Firmen wie Red Bull.
Sie schreiben, die Schützenhilfe, die RB bei seiner Gründung aus Politik und Verbänden erhalten habe, sei »imaginiert«. Aber selbst ehemalige Red-Bull-Angestellte sprechen ganz offen darüber, wie vor allem die Landespolitik und die Fußballverbände jeden Stein für RB aus dem Weg räumten. Zu »imaginieren« braucht man da nicht viel.
Das stimmt, auch der Leipziger Oberbürgermeister war hin und weg vor Begeisterung. Wettbewerbsverzerrungen praktizieren aber auch andere Vereine. Deswegen ist es so schräg, wenn die wichtige Diskussion darüber ausschließlich an RB festgemacht wird. Bei anderen Vereinen gibt es auch Interessen wie die, die bei RB durchgesetzt wurden. Aber natürlich ist ein Verein mehr als ein Geschäft, er bedeutet viel mehr für die Leute, die den Verein erklärtermaßen ausmachen. Verschwörungsvorstellungen spielen aber beispielsweise dann eine Rolle, wenn behauptet wird, Medien und RB Leipzig hätten gemeinsam einen Plan ausgeheckt, um die Tradition zu vernichten.
Würden Sie dem zustimmen, dass RB Leipzig im Fußball-Turbokapitalismus noch mal einen Exzess, eine andere Qualität darstellt? Der wohl offensichtlichste Bruch der 50+1-Regel, Mitbestimmung ist per Satzung ausgeschlossen: Der Klub wurde von einem Konzern gegründet - aus dem einzigen Grund, um ein Produkt zu bewerben.
RB ist kommodifizierter Fußball in seiner extremen Form. Ich hoffe aber, dass mein Buch als ein Beitrag zur Diskussion darüber verstanden wird, wie sich die Fans eigentlich den Fußball wünschen und unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen er derzeit stattfindet. Kapitalismus wird hier sehr selten als Problem benannt. Aber er ist die Wurzel der ganzen Diskussion.
Ultras sind also auch Teil des Problems?
Alle sind Teil des Kapitalismus. Ultras sind zugleich die kritische Bewegung gegen die Kommodifizierung des Fußballs. Ohne sie wäre der Prozess wohl noch schneller noch weiter gegangen. Ich finde es aber paradox, wie manche die eigene Rolle verkennen. Die meisten Gruppen wurden in den 1990ern gegründet. In der Zeit, in der Fußball zum Medienspektakel wurde, haben sie weit bessere Bilder zur Vermarktung geliefert als die Hooligans davor. Ich würde mich freuen, wenn noch mehr Fans auch kritisch mit ihrer eigenen Rolle umgehen. Und mit ihrem eigenen Verein, der ja oft selbst an der Börse oder als GmbH organisiert ist.Das »nd« bleibt gefährdet
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