42 ist nicht die Antwort

Jakob Hayner sieht eine neue Zahlenmystik aufkommen

  • Jakob Hayner
  • Lesedauer: 3 Min.

In dem Film »Pi« von Darren Aronofsky fällt an einer Stelle der Satz »It’s just a number«, es ist nur eine Zahl. Doch zu spät, der Protagonist glaubt längst, die Weltformel gefunden zu haben. Das Abgleiten in die Zahlenmystik ist die paradoxe Folge des Strebens, die Welt erkennen zu wollen. Zur in sich verhinderten Aufklärung wird das, wenn das System der Zahlen nicht mehr begriffen wird als Zeichenmodell der zu begreifenden Welt, sondern als die Welt selbst. In »Pi« betrifft das einen genialen Mathematiker, dem man letztlich wohl eine paranoide Psychose diagnostizieren muss.

Will der Film sagen, dass Menschen, deren Denken wie »Mahlen nach Zahlen« funktioniert, nicht ganz beieinander sind? Schon das 19. Jahrhundert hat die objektive Macke gehabt, Gesellschaft in Statistik auflösen zu wollen. Das hatte gegenüber vorigen Welterklärungen (Geister, Götter, …) nicht zu leugnende Züge von Aufklärung. Dass es zugleich umschlagen könnte in einen neuen Aberglauben, zeigen das 20. Jahrhundert und die Gegenwart. Zahlen werden zu Letztbegründungen. Nun ist es die Inzidenz wie davor der R-Wert, die ja keine Naturgewalten sind, sondern Kennzahlen, auf die aber wie zwanghaft nur noch mit immer härteren »Maßnahmen« »reagiert« wird (Wellenbrecher! Notbremse! Holzhammer! Brücke! - das metaphorische Feld des Regierungshandelns wäre eine eigene Erörterung wert).

Im vergangenen Frühjahr hat Jean-Luc Godard vor Studenten darüber gesprochen, wie das Imaginäre einer Gesellschaft sich immer mehr in Zahlen, Statistiken und Kurven ausdrückt. Mit einer gewissen Faszination schilderte der legendäre Filmemacher, dass die Charts heute nicht mehr nur wie die Börsenkurse die »Gesundheit der Wirtschaft« anzeigen, sondern die ganzer Bevölkerungen. Wir sind zu Zuschauern der großen Fieberkurve der Gesellschaft geworden. Es dürfte geradezu vorteilhaft sein, nicht zu wissen, was die Zahlen oder Kurven jeweils exakt bedeuten. Godard geht es um die Pseudoevidenz, die davon ausgeht. Solche Zahlenmystik beruht darauf, was der Psychoanalytiker Jacques Lacan in den 1960ern den »Diskurs der Universität« nannte. Er stellte fest, dass an die Stelle des Herrn das Wissen getreten sei. Die Macht kommt im Gewand des Faktischen und Quantifizierbaren daher. Das ist gar nicht abstrakt, das heutige Self-Tracking übt das spielerisch ein.

Sind Gesellschaften, die auf Zahlen starren, noch aufgeklärt zu nennen? Golo Mann hat in seinen Lebenserinnerungen geschildert, wie sich nach dem Ersten Weltkrieg ein Zahlenfetisch entwickelte - als Ausdruck gesellschaftlicher Irrationalität. Ein Zeitgenosse, Theodor W. Adorno, schrieb später über jene, die getrieben waren, »gierig-gelähmt die Zeitungen zu kaufen, in denen die Maßnahmen standen«. Nun sind das Problem an der Herrschaft der Zahlen nicht die Zahlen, sondern die Herrschaft - ein verkehrtes Weltverhältnis. Mit der neuen Zahlenmystik tritt auch eine naive Wissenschaftsgläubigkeit auf. Doch wie der Mathematiker in »Pi« kann man das Rätsel nicht lösen, wenn es nicht als Zeichen einer anderen, sozialen Frage begriffen wird.

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