Völkermord an den Uiguren?

Die Auseinandersetzung um die Provinz Xinjiang ist Teil einer Strategie, den Aufstieg Chinas zu stoppen oder zu verlangsamen

  • Uwe Behrens
  • Lesedauer: 8 Min.

Die Biden-Administration, das holländische und das EU-Parlament klagen die Regierung Chinas des Genozids an der uigurischen Volksgruppe in der Provinz Xinjiang an. Sie verhängten Sanktionen gegen einzelne Verantwortungsträger wie als auch gegen Unternehmen. Die Volksrepublik China antwortete mit Gegensanktionen gegen EU-Parlamentarier und auf China spezialisierte Forschungsinstitute.

Dagegen begrüßte 2019 die Organisation für islamische Zusammenarbeit die Bedingungen, unter denen Muslime in China leben, was auch während des Besuches des chinesischen Außenministers in Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, in Oman, Bahrain und dem Iran im März dieses Jahres durch diese bestätigt wurde.

Uwe Behrens

Uwe Behrens, promovierter Ökonom, Jahrgang 1944, war im DDR-Verkehrswesen tätig. Von 1990 bis 2017 lebte und arbeitete er in China - zunächst für eine deutsche Speditionsfirma, dann bei einem deutsch-chinesischen und bei einem französisch-indischen Gemeinschaftsunternehmen. Zuletzt besuchte er 2019 China und bereiste unter anderem die Provinz Xinijang. Gerade erschien im Verlag Edition Ost sein Buch »Feindbild China. Was wir alles nicht über die Volksrepublik wissen« (224 S., br., 15 €).

Um zu verstehen, dass einerseits die westlichen Staaten China wegen der Lebensbedingungen einer islamischen Volksgruppe verurteilen und andererseits islamische Staaten China für diese Bedingungen loben, muss man sich die Hintergründe und Details anschauen.

Es gibt in China zwei größere muslimische Volksgruppen: die Hui, mehrheitlich siedelnd in der Ninxia-Provinz, und die Uiguren, mehrheitlich in Xinjiang lebend. Beide Gruppen genießen Schutz und Privilegien, wie sie gesetzlich für alle 55 nationalen Minderheiten in der Volksrepublik China eingeräumt werden. Ihnen wurden und werden u.a. der bevorzugte Zugang zu Bildungseinrichtungen, Steuervergünstigungen und die Nichtanwendung der inzwischen beendeten Ein-Kind-Politik mit dem Verzicht auf Geburteneinschränkungen gewährt.

In Ningxia konnte ich mich von den regelmäßigen Besuchen der Moscheen und der freien Ausübung der muslimischen Traditionen überzeugen. Bei den Konflikten in der Xinjiang-Provinz geht es offensichtlich nicht um den Islam, sondern um die seit mehr als 20 Jahren wieder aufgetretenen separatistischen Bestrebungen, die autonome Region Xinjiang aus China herauszulösen und in ein islamisches Kalifat zu wandeln. Derartige Gebilde bestanden bereits, obwohl international nicht anerkannt, von 1865 bis 1877, von 1933 bis 1934 und von 1944 bis 1949.

Die Ursachen für das wiedererstarkende Aufkommen dieser Bestrebungen nach politischer und territorialer Unabhängigkeit sind sowohl in der autonomen Provinz Xinjiang selbst als auch - und das kampagnenhaft mit unangemessenem und offenem politischen Druck - außerhalb von China zu verorten.

Die Xinjiang-Provinz ist geprägt durch dünn besiedeltes Grasland, Wüsten und Gebirge mit einer traditionell bescheidenen landwirtschaftlichen Nutzung. In der Konsequenz liegen daher der Wohlstand sowie der Bildungsstand der Bevölkerung weit unter dem der anderen Regionen Chinas, insbesondere im Vergleich zu den industriellen Provinzen im Osten und an den Küsten des Landes. Während meiner vielen beruflichen und touristischen Aufenthalte in der Provinz in den letzten 30 Jahren war ich in den 90er Jahren überrascht, derartige Rückständigkeit in China zu erleben.

Um diese Wohlstandsunterschiede auszugleichen, aber auch um die vielfältigen Ressourcen nutzen zu können, wurde seit den 80er und 90er Jahren verstärkt in den Aufbau der Industrie, der Infrastruktur und in die Landwirtschaft investiert, was mit einem starken Zuzug von Nicht-Uiguren, vor allem Han, in die Provinz verbunden war. Die zugezogenen Einwohner verfügten über höhere Bildung und nahmen auch die besser bezahlten Positionen ein. Ein Wohlstandsgefälle zwischen den Uiguren und den Han-Chinesen entstand, was sich in zunehmenden Spannungen niederschlug.

Die Exilorganisation der Volksgruppe, der Uigurische Weltkongress mit Sitz in München und unterstützt von einer staatlich finanzierten US-Denkfabrik, betrachtet sich als eine Art Exilregierung und fordert ein unabhängiges Ostturkestan. Gleichzeitig unterhält dieser Weltkongress eine militärische Organisation, die Ostturkestanische Islamische Bewegung, die letztlich für terroristische Anschläge verantwortlich zeichnet, aber 2020 von den USA von der Liste der terroristischen Organisationen gestrichen wurde.

Diese Situation wurde zusätzlich befeuert durch die in den Nachbarländern Pakistan und Afghanistan ausgetragenen militärischen Auseinandersetzungen. Im an China grenzenden Wakhan-Korridor wurden gewaltbereite Uiguren, gemeinsam mit den Taliban, für einen religiösen Kampf ausgebildet. Später kamen uigurische Gruppen in Kontakt mit terroristischen Organisationen in anderen Ländern, schlossen sich sogar dem IS an und kämpften u.a. in Syrien und in Libyen.

Bereits in den Jahren zwischen 2000 und 2010 wurden auf chinesischem Territorium, in der Provinz und in Städten, durch islamistisch beeinflusste Uiguren wiederholt terroristische Anschläge verübt. Hunderte Opfer an Zivilisten und Sicherheitskräften waren zu beklagen.

In Xinjiang geht es also nicht um die Unterdrückung des Islams oder der uigurischen Ethnie en bloc, sondern um die Bekämpfung separatistischer Bestrebungen, die durch eine politische islamistische Ideologie, nicht zu verwechseln mit der üblichen Ausübung der Religion des Islam, von ausländischen Kräften unterstützt werden. Die von Separatisten designten terroristischen Aktionen zur Destabilisierung der Lage, vor allem in den betroffenen Gebieten, sollen dabei in diesem Zusammenhang von den chinesischen Sicherheitskräften bereits vorsorglich aufgedeckt und verhindert werden.

Mit einem kompletten Paket an Maßnahmen versucht die chinesische Zentralregierung der schwelenden Terrorismusgefahr entgegenzuwirken: verstärkte Investitionen in die Infrastruktur und in die industrielle sowie landwirtschaftliche Entwicklung, Ausbau des Bildungssystems und damit Überwindung der Armut. Ergänzend wurde ein System der Kontrolle und Überwachung zur Verhinderung jeglicher separatistischer und terroristischer Aktivitäten aufgebaut, unter dem zweifellos auch die zivile friedliche Bevölkerung leidet. An den Ein- und Ausfahrten eines jeden Dorfes, einer jeden Stadt gibt es stark bewaffnete Kontrollposten und innerhalb der Städte gefühlt alle 500 Meter eine Polizeiwache. Überwachungskameras zur Gesichtserkennung sind allgegenwärtig. Das ist nicht schön und wirkt weder friedlich noch entspannt und für westliche Besucher erschreckend.

Die Industrialisierung und die Modernisierung der Landwirtschaft sind vor allem im Zusammenhang mit den staatlichen Bestrebungen zur Beseitigung der Armut zu betrachten. Zwischen den Städten der Provinz Xinjiang und wohlhabenderen Provinzen wurden Partnerschaftsvereinbarungen getroffen, die vorsehen, erfahrene Manager, im Westen Kader genannt, zu entsenden. Das gleiche Prinzip wurde in anderen Provinzen wie Guizhou oder Sichuan angewendet. In den internationalen Medien wurde darüber mit viel Lob berichtet.

Diese Entwicklungsprojekte umfassen neben dem Aufbau einer digital gestützten Kleinindustrie in den Dörfern auch den Aufbau moderner Produktionseinrichtungen für die Textil-, Auto- und Elektronikindustrie. Unternehmen aus den Partnerregionen investieren in Xinjiang, indem sie neue Produktionsanlagen ihres Industriezweiges errichten. Die dafür erforderlichen Arbeitskräfte werden aus der lokalen Bevölkerung, also der uigurischen, rekrutiert, was zwangsläufig mit einer vorherigen Ausbildung verbunden sein muss. Gleichzeitig zieht diese Industrialisierung eine Umsiedlung in die neuen Industriezentren nach sich. So wurden etwa drei Millionen Uiguren, die in mehr als 3500 Dörfern lebten, aus der Armut befreit, auch indem 170 000 Menschen umgesiedelt wurden.

Die Landwirtschaft wurde ebenfalls industriell umgewandelt. Speziell die amerikanischen Exporteure von Landwirtschaftsmaschinen machten das Geschäft des Jahrhunderts, indem sie Erntemaschinen der Baumwollindustrie lieferten. Heute sind bereits rund 70 bis 80 Prozent der Baumwollernten mechanisiert. Das führte zu einem starken Rückgang der Erntehelfer. Wurden noch 2008 etwa 700 000 Erntehelfer aus ganz China gebraucht, waren es 2018 nur noch 100 000; allerdings werden die jetzt nur noch von der Xinjiang-Provinz, also aus der uigurischen Bevölkerung gestellt.

Durch all diese Maßnahmen konnte die absolute Armut auch unter den Uiguren bis 2020 überwunden werden. Während meiner letzten Reise durch Xinjiang, gerade noch kurz vor der Corona-Krise, konnte ich mich 2019 von all dem selbst überzeugen.

Die Entwicklungen in der Xinjiang-Provinz sind seit der Eindämmungspolitik der Trump-Administration in das Spannungsfeld zwischen den USA und China geraten. Sie werden nach den Interessen der USA sowie deren Verbündeter bewertet. Neue industrielle Komplexe mit Bildungseinrichtungen werden als Internierungscamps umgedeutet.

Die in den westlichen Medien wiederholte Zahl von ungefähr einer Million internierter Uiguren basiert auf einer Schätzung des vom US National Empowerment Fund unterstützten Netzwerks Chinese Human Rights Defenders, welches in acht Dörfern jeweils acht Personen befragten, ob und wie viel von ihnen bekannten Personen in Lagern interniert seien. So kam es zum Befund, dass etwa zehn Prozent der Dorfbevölkerung interniert seien. Dieser Prozentsatz wurde wiederum auf die gesamte Bevölkerung hochgerechnet und damit war die Zahl eine Million geboren. Meines Wissens gibt es keine weiteren oder gehaltvolleren Belege. Ähnlich verhält es sich mit der Zahl der Lager. Das BBC wertete Satellitenaufnahmen aus und identifizierte neu gebaute, mit Mauern eingezäunte Komplexe als mögliche Camps. Diese Komplexe können durchaus auch neue Industrieanlagen und Betriebe sein.

Eine kürzlich veröffentlichte Studie vom Newlines Institute for Strategy and Policy in den USA kommt, basierend auf den gleichen ursprünglichen und ähnlichen schwachen Daten, zu dem Ergebnis, dass China einen Genozid, also einen Völkermord begehe.

Diese Studie ist eine Aneinanderreihung von ungeprüften Sekundärinformationen und Aussagen von im Ausland lebenden Uiguren und basiert letztendlich auf der Internetrecherche des Anthropologen Adrian Zenz, der sich im Umfeld rechter evangelikaler Christen bewegt und für einen rechtskonservativen Thinktank in den USA arbeitet.

Die Studie, die der Bestätigung unabhängiger Wissenschaftler bedurft hätte, wartet noch immer auf die Unterschrift von 33 der 66 befragten Wissenschaftler, die wegen berechtigter Zweifel ihr Pro nicht gegeben haben. Zenz räumte in einem Interview in der »Neuen Zürcher Zeitung« vom März 2021 ein, dass die Beweislage für den Genozid-Vorwurf »sehr dünn« sei, fand es aber »aus symbolischer Sicht« angemessen, den Begriff dennoch zu verwenden, weil er »einen starken psychologischen Effekt« erziele und so zu »wirtschaftlichen Konsequenzen« führen könne.

All das stellt die Glaubwürdigkeit der Beschuldigungen in Frage, lässt jedoch die Absicht dahinter klar erkennen: Destabilisierung Chinas mit dem erklärtem Ziel, den erfolgreichen Aufstieg Chinas zu verhindern, mindestens zu verlangsamen.

Was dabei am meisten erschreckt, ist die Tatsache, dass die konstruierten Tatbestände und vorgetragenen Verdachtsfälle ungeprüft von westlichen Medien übernommen werden und als Grundlage für politische Entscheidungen dienen.

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