»Jüdisch zu sein bedeutet ganz viel Unterschiedliches«

Wenn es um das Judentum geht, zeigen Medien oft Bilder von Menschen mit einer Kippa. Oft werde Religion oder das Eigentümliche hervorgehoben. Das bilde die Vielfalt nicht ab, sagt Laura Cazés.

  • Isabella A. Caldart
  • Lesedauer: 9 Min.

Lassen Sie uns zunächst über Ihren Alltag sprechen. Wie wichtig sind jüdische Traditionen und die Religion und ganz allgemein das Jüdischsein für Ihre Identität?

Jüdisch zu sein bedeutet ganz viele Sachen, nicht nur die Religion. Viele Jüd*innen glauben gar nicht an Gott. Es geht vielmehr um die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Ich bin in Frankfurt und München zwar in orthodox geprägten Gemeinden aufgewachsen, habe aber zumeist sehr säkular gelebt. Jüdische Traditionen haben immer zu meinem Alltag gehört, wie stark ich sie einbinde, hängt immer ein bisschen von der Lebensphase ab. Feiertage und Riten sind in meinem Leben wichtig, auch wenn ich den Schabbat nicht streng einhalte.

Im Interview

Wie sieht jüdisches Leben in Deutschland aus? Welche Bedeutung hat der Anschlag von Halle? Und wie haben deutsche Jüd*innen auf die Netflix-Serie »Unorthodox« reagiert? Die Feministin Laura Cazés, geboren 1990, die in Frankfurt am Main für die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden arbeitet, sagt, das Jüdischsein habe ganz viele Facetten. Der Blick dürfe nicht nur auf das Eigentümliche gerichtet werden.

Sie leben nicht nur jüdische Traditionen, sondern haben dies auch zu Ihrem Beruf gemacht. Worin genau besteht Ihre Arbeit bei der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden?

Meine Arbeit ist wesentlich weniger exotisch, als man meinen könnte. Vor sechs Jahren habe ich die Projektleitung eines Freiwilligendiensts übernommen, der Deutschen die Möglichkeit gibt, in Israel Freiwilligenarbeit zu machen, und Israelis in Deutschland - übrigens auch nicht-jüdischen Israelis. Nach vier Jahren wollte ich mich weiterentwickeln. Ich bin bei der ZWST in die Organisationsentwicklung gegangen und habe kleinere Projekte und Innovationen innerhalb des Verbands angestoßen. Durch Corona bin ich inzwischen Leiterin der Kommunikation und Digitalisierung geworden, kümmere mich um digitale Transformation, Social Media und die Öffentlichkeitsarbeit. Im Rahmen des Festjahres 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland, das dieses Jahr gefeiert wird, organisieren wir eine Digitalkampagne, um zu zeigen, wie jüdische Sozialarbeit die sozialen Strukturen in Deutschland mitgeprägt hat.

In einem Video des Hessischen Rundfunks heißt es, Sie hätten kein festes Gefühl von Heimat. Ist auch Frankfurt am Main keine Heimat für Sie? Und spielt diese Frage für Ihr Leben überhaupt eine Rolle?

Die Frage danach spielt eine sehr große Rolle. Jüdisch zu sein bedeutet ganz viel Unterschiedliches. Im Gegensatz zu den meisten Jüd*innen in Deutschland kommt meine Familie nicht aus der ehemaligen Sowjetunion. Meine Mutter ist Kind polnischer Jüd*innen, mein Vater ist jüdischer Argentinier, und seine Familie wiederum stammt aus der Türkei. Meine Vorfahren sind also sephardische und aschkenasische Jüd*innen. Ich komme aus zwei ganz unterschiedlichen Welten, deren kleinster gemeinsamer Nenner das Jüdischsein ist. Heimat als Begriff ist für Menschen mit Überlebendenbiografie aufgrund der Entwurzelung unglaublich schwer zu definieren. Vor allem in Deutschland - ich habe beispielsweise Verwandte in England und den USA, die damit kein Problem haben. Ich habe mich damit arrangiert, dass das ein sehr ambivalentes Thema für mich ist und immer sein wird. Aber ich mag Frankfurt, ich wohne hier gerne. Die Stadt passt zu mir und ich zu ihr.

In Frankfurt sind Sie als Kind auf eine jüdische Schule gegangen, die unter Polizeischutz steht. Wie sehr war Ihnen damals bewusst, dass das für andere Kinder nicht üblich ist und Sie sich potenziell in Gefahr befanden?

Ich habe das total realisiert. Es war für mich völlig klar, auch schon, als ich in den Kindergarten gegangen bin. Es ist unglaublich schwer zu erklären, wie eindeutig man das wahrnimmt und weiß, dass das aufgrund des Jüdischseins ist - und dass man trotzdem keine Angst hat. Ich ringe immer noch damit zu erklären, was für eine Erfahrung das ist. Polizei, Schleusen, Panzerglas, Security, Terroralarmübung, das war für mich normal, und dennoch habe ich meine Schule nicht als abgeschottet wahrgenommen. Das Gefühl ist natürlich trügerisch, weil es völlig absurd ist, dass diese Dinge notwendig sind, damit jüdisches Leben überhaupt existieren kann. Das ist mir erst viel später klar geworden. Man findet sich mit dem Modus ab, was leider auch etwas Resignatives hat. In München habe ich einen Kindergarten besucht, und als das Gebäude umgebaut werden musste, war der einzige Ort, der sicher genug war, um uns zu beherbergen, ein Gelände der ehemaligen US Army. Ein anderes Beispiel: Meine nicht-jüdischen Freund*innen können sich an den 11. September 2001 nur dunkel erinnern, während ich eine total deutliche Erinnerung habe. An meiner Schule gab es dadurch höhere Sicherheitsmaßnahmen, weil niemand einschätzen konnte, ob der islamistische Terror auch international eine Bedrohung sein könnte.

Stichwort Terror: Ein Jahr nach Halle haben Sie in einem Artikel geschrieben: »Für keine jüdische Person in Deutschland war der Terroranschlag auf die Synagoge in Halle eine Überraschung.« Hat sich Ihr Sicherheitsgefühl in Deutschland durch den Anschlag verändert, oder war es immer vergleichbar?

Ich bin an dem Tag, an Jom Kippur, in Frankfurt auch in die Synagoge gegangen, und aufgrund der Stimmung und der Sicherheitsvorkehrungen war mir sofort klar, dass etwas passiert war. Wenn man in so einer Struktur aufwächst, ist man dafür sensibilisiert. Als ich von dem Anschlag erfahren habe, war ich geschockt, einfach weil es nicht so viele jüdische Menschen in Deutschland gibt und die Chance somit hoch ist, dass man jemanden kennt, der zu dem Zeitpunkt die Synagoge von Halle besucht hat - und das war bei mir auch der Fall. Der Schock kam außerdem daher, weil sich bestätigt hat, dass die vermeintliche »jüdische Paranoia«, diese latente Angst, nicht irrational, sondern durch die tatsächliche Sicherheitslage begründet ist. Terror ist ein Phänomen, dem die jüdische Community immer ausgesetzt ist. Dazu gibt es keine naive Haltung.

Deswegen war Halle keine Überraschung für Sie.

Halle war eher eine schmerzliche Bestätigung dessen, was passieren kann, wenn der Sicherheitsapparat nicht da ist. Am Ende war es nur eine Tür, an der der Täter scheiterte und die den Menschen in der Synagoge das Leben rettete. Die gesellschaftliche Wahrnehmung, die jüdische Gemeinde bräuchte eine »Extrabehandlung«, ist etwas, was mich sehr beschäftigt, weil es eine total verzerrte Wahrnehmung der Situation ist. Es wird nicht skandalisiert, dass diese Sicherheitsvorkehrungen notwendig sind und es nicht möglich ist, eine Gesellschaftsordnung herzustellen, in der jüdische Kinder sicher zur Schule gehen können. Da haben wir noch zu tun.

Ein ganz anderes Thema: Die Netflix-Serie »Unorthodox« war hier ein großer Erfolg. Sie haben in einem Artikel Unbehagen über die Serie und deren Rezeption ausgedrückt und den »German Gaze« kritisiert. Was genau meinen Sie damit?

Jüd*innen sind in Deutschland eine unglaubliche Projektionsfläche. Wenn das Wort fällt, kommen den Menschen tausend Assoziationen, die alle relativ weit weg sind von alltäglichen Lebensrealitäten: abrahamitische Weltreligion, der Ursprung des Christentums, Israel, Gaskammern. Das Wort »Jude« ist dermaßen aufgeladen, dass es Mehrheitsdeutschen teilweise schwerfällt, es auszusprechen. Und vielen Medienschaffenden fehlt das Bewusstsein, dass sie ihre eigenen Assoziationen mitdenken müssen. In der medialen Vorstellung wird das Judentum häufig auf das Eigentümliche reduziert, etwa eine Kippa zu zeigen, weil man ohne diese Jüd*innen auf der Straße nicht erkennen würde. Es wird immer das Exotische hervorgehoben. Und diese Dynamik, dass in einer deutschen Gesellschaft das »typisch Jüdische« so öffentlich betrachtet wird, das meine ich mit »German Gaze«.

Sie haben in Ihrer Kritik Bezug auf den Podcast »Fest & Flauschig« von Jan Böhmermann und Olli Schulz genommen. Warum?

Jan Böhmermann bezeichnet die Serie in seinem Podcast als tolle Einführung in die jüdische Kultur, dabei hat »Unorthodox« nichts mit dem Großteil des säkularen jüdischen Lebens zu tun. Die ultraorthodoxe Enklave, wie sie in der Serie gezeigt wird - und hier sollte man nicht vergessen, dass diese Strömung eine direkte Auswirkung der Schoah ist - hat eine sektenartige Struktur, und so kann man die jüdische Community als Ganzes auf keinen Fall bezeichnen. Diese spezielle Gemeinschaft selbst wurde gut dargestellt. Sie leben extrem abgeschottet und wie in einer anderen Zeit. Das Problem ist, dass es auf so viele Projektionsebenen fällt. Und deswegen hat es innerhalb der jüdischen Community Unbehagen ausgelöst, dass »Unorthodox« so ein unglaublicher Erfolg war in Deutschland, ohne dass die Serie kontextualisiert wurde. Sie bestätigt ein bestimmtes Bild und hat wenig mit jüdischen Lebensrealitäten in Deutschland heute zu tun. Manche Jüd*innen haben sich um Abgrenzung bemüht, gesagt, dass wir nicht so sind. Aber ganz stimmt das auch nicht, schließlich feiern wir schon die gleichen Feiertage. Das ist ein ganz großes Spannungsfeld.

Ist denn Ihrer Meinung nach der Blick auf Jüdinnen und Juden in Deutschland immer noch sehr einseitig, oder ändert sich das langsam?

Durch Menschen wie Max Czollek oder Mirna Funk ändert sich das langsam. Es gibt dank Social Media andere, unmittelbare Zugänge und eine gemeinsame Sprache, die innerhalb der postmigrantischen Gesellschaft funktioniert. Wie zum Beispiel Mirna Funks Kolumne in der »Vogue«, in der sie auch über jüdisches Leben spricht. Ein großer Schritt ist außerdem, dass es etwas wie eine Allianzenbildung gibt, also Ansätze, um zu vergleichen, wo sich Ausgrenzungserfahrungen miteinander vergleichen lassen und wo nicht. Es gibt schließlich einen Unterschied zwischen Rassismus und Antisemitismus, Letzteres ist keine Unterform von Rassismus, lässt sich nicht subsumieren. Erfreulicherweise existieren heute viel mehr Zugänge, um das zu verhandeln. Ich habe auch das Gefühl, dass die Berührungsängste weniger werden. Wenn man sie darauf anspricht, wird vielen Leuten ihre Projektion klar, ähnlich wie wenn internalisierter Rassismus thematisiert wird. Das ist ein interessanter Prozess. Allerdings macht das sich verändernde politische Klima auch notwendig, diese Gespräche zu führen.

Sie haben vergangenes Jahr die Veranstaltung Jewish Women Empowerment Summit mitorganisiert. Worum genau ging es da? Welche Relevanz hat der Feminismus im Judentum?

Der Jewish Women Empowerment Summit ist ein Kooperationsprojekt zwischen der Bildungsabteilung des Zentralrates, der Jüdischen Studierendenunion und der ZWST. Für mich und viele in meinem Alter spielt eine große Rolle, dass Themen, die uns in unserem Alltag oder in unserem aktivistischen Handeln beschäftigen, bislang noch relativ wenig Platz in der jüdischen Gemeinde finden. Diese Diskrepanz wird nicht zwingend bewusst herbeigeführt. Feminismus und Judentum sind allerdings bei Weitem keine neue Kombination, die ZWST wurde zum Beispiel auch von Frauenrechtlerinnen gegründet. Uns ist nicht nur wichtig, auf religiöser Ebene zu verhandeln, ob Feminismus und Judentum zusammenpassen, und zwar von liberal bis orthodox, sondern uns die jüdische Gemeinde auch als sozialen Raum anzuschauen. Dazu gehören natürlich unterschiedlichste Themen rund um Empowerment und Feminismus.

Ein wichtiges Thema ist aber auch die Schnittstelle Antisemitismus und Antifeminismus und die Frage, wie jüdische Frauen einer Mehrfachdiskriminierung ausgesetzt sind. Die Veranstaltungsreihe wird dieses Jahr zum dritten Mal stattfinden, damit möchten wir das Thema nachhaltig und strukturell fördern.

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