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Gott helfe mir, aber auch den Juden?
Vor 500 Jahren stand Martin Luther vor dem Reichstag zu Worms und verteidigte seinen Glauben. Er hoffte, die Juden würden sich ihm anschließen. Doch bald schon verachtete er sie nur noch.
Es ist der wohl berühmteste Satz des Protestantismus, gut 500 Jahre alt: »Ich kann nicht anders, hier stehe ich, Gott helfe mir, Amen.« Ein Satz allerdings, den Martin Luther so nicht gesagt hat bei seinem Auftritt vor dem Reichstag zu Worms am 18. April 1521. Wie sein Biograf Heinz Schilling schreibt, hatten seinerzeit die Lektoren in Luthers Buchdruckerei den ihnen zugespielten Redetext auf geniale Weise zugespitzt - ohne Luthers Mitwirkung, saß der Reformator doch bereits auf der Wartburg fest.
Gilt zwar der 31. Oktober 1517, mit der Veröffentlichung von Luthers Thesen, als Gründungsdatum der evangelischen Kirche, so begann ihre eigentliche Geschichte erst drei Jahre später vor den Mauern der Stadt Wittenberg: als Luther die päpstliche Bannandrohungsbulle öffentlich verbrannte. Der zornige Augustinermönch hatte den Papst exkommuniziert! Erst in dieser Zeit beginnt, so der Kirchenhistoriker Volker Leppin, »die Selbstauslegung der Reformatoren als Begründer einer neuen Epoche, die den alten Glauben als antichristlich hinter sich lässt«. Luthers Auftritt in Worms aber sollte alles andere überstrahlen!
Karsten Krampitz ist Autor und Schriftsteller, zudem Mitglied der Historischen Kommission beim Vorstand der Linkspartei. An der Humboldt-Universität zu Berlin promovierte er 2015 zum Verhältnis von Staat und Kirche in der DDR. 2017 erschien bei Alibri sein Überblickswerk »›Jedermann sei untertan‹. Deutscher Protestantismus im 20. Jahrhundert. Irrwege und Umwege«.
Der berühmte Auftritt beim Reichstag zu Worms
Der Standfeste. Der Gewissensmann. Das ist der Fokus, wenn von Luthers Auftritt beim Reichstag zu Worms die Rede ist. Weniger bekannt ist, dass womöglich auch ein anderes Thema eine Rolle spielte - eines, das oft eher mit dem »alten« Luther verbunden wird: sein Verhältnis zu den Juden. Reinhold Lewin machte darauf schon vor über 100 Jahren aufmerksam. Der spätere Rabbiner wurde 1911 an der Universität Breslau zu Luthers Judenfeindschaft promoviert. In seiner Dissertation schreibt er:
»Es war zu Worms im April 1521, in jenen denkwürdigen Tagen, da der kühne Mönch von Wittenberg sein neues Evangelium mannhaft vor Kaiser und Reich vertreten. In der Herberge, in der Luther abgestiegen ist, wird es nicht leer. Ein Besuch nach dem anderen meldet sich an, um von Angesicht zu Angesicht den Mann Gottes kennenzulernen, ›den Helden, der auf seinen Schultern eine große Last und fast des ganzen Reiches Hass getragen hat‹. Fürsten und Grafen und sonstige vornehme Herren drängen sich um ihn, begierig ein Wort mit ihm zu wechseln. Da begehren plötzlich zwei Juden Einlass. Der Herold Kaspar Sturm, der den Befehl empfangen hat, nur hineinzulassen wem es zukomme, hält sie verwundert an und erfährt auf seine Frage, sie hätten gehört, dass in dem Hause der trefflichste Mann weile, der jetzt lebe; er sei zugleich hochgelehrt, und sie wollten von ihm in etlichen Dingen, in denen sie zweifelhaft seien, sich unterweisen lassen; sie brächten ihm auch einige Geschenke mit, um ihn nach Gebühr zu verehren. Mit der Fürsten und Luthers Erlaubnis treten beide ein. Sie machen nach ihrer Gewohnheit ihre Reverenz, überreichen einige Flaschen süßen Weins und zeigen den Zweck ihres Kommens an; sie begehren nämlich, Luther möge ihnen etwas aus der Heiligen Schrift vorlegen, worauf sie ihm Rede und Antwort stehen mochten. Luther fordert sie zunächst auf, ihm die Meinung des Propheten Jesaja auszulegen in dem Spruch: ›Siehe, eine Jungfrau ist schwanger‹ (Jesaja 7, 14). Ihre Entgegnung lautet, das hebräische Wort, das man mit Jungfrau übersetze, bedeute generell oder allgemein ein junges Weib. Als Luther dagegen auf Rebekka und Mirjam verweist, die beide ebenso bezeichnet werden (1. Mose 24, 43 und 2. Mose 2, 8), stimmt der eine der beiden Juden ihm zu, der andere verharrt auf seiner Ansicht. Während Luther still schweigt, setzen die Juden den Disput untereinander fort, erhitzen sich in ihrem Streite immer mehr, es fehlt wenig, dass sie tätlich aneinandergeraten. Da greifen die Diener der anwesenden Fürsten ein und stoßen beide unter dem schallenden Gelächter der Zuschauer hinaus.«
An der Historizität dieser Episode haben Historiker heute ihre Zweifel. Das Problematische sei, so der Luther-Experte Thomas Kaufmann, dass diese Szene erst fünf Jahrzehnte später in einer Überlieferung der Luther-Predigten Nicolaus Selneckers greifbar ist, eines lutherischen Theologen aus Leipzig. »Vorher haben wir keine Überlieferung. Und ich sehe darin durchaus legendarische Züge.« Eine Art Wanderlegende mit stereotypem Muster: Luther trifft Juden und streitet mit ihnen über Jesaja 7, 14. Dem Reformator Selnecker werde ein deutliches Interesse nachgesagt, Juden zu verunglimpfen, so Kaufmann. Außerdem habe er sich auf Kaspar Sturm berufen, der Luther seinerzeit in Wittenberg abgeholt und nach Worms begleitet hatte. Doch wie und wann Selnecker Jahrzehnte später den Reichsherold traf, dafür gebe es keine Quellen.
Dennoch enthält die Episode einen wahren Kern. Einmal abgesehen davon, dass eine solche Begegnung in Worms zwischen Juden und Christen durchaus hätte stattfinden können, was selbst Thomas Kaufmann zugibt, schildert sie Luthers damaliges Verhältnis zu den Juden sehr anschaulich. Der Kirchenhistoriker und Luther-Biograf Volker Leppin sieht darin die Stärke von Lewins Buch. Die beschriebene Szene zeige Luthers Intention, nämlich die Bibel anders zu interpretieren als die Juden. »Ihm geht es im Grunde genommen darum, den Juden das Alte Testament zu entreißen, in seiner Interpretationsgeschichte«, so Leppin. Allein, dass wir vom »Alten Testament« reden, sei eine Form von christlicher Vereinnahmung eines Buches, das zunächst einmal die hebräische Bibel ist.
Reinhold Lewins im Jahr 1911 veröffentlichte Promotionsschrift gilt als Auftakt der wissenschaftlichen Forschung über Luthers Verhältnis zu den Juden - und ist dabei selbst ein Stück Geschichte: Im Jahr 1910 hatte die Evangelisch-Theologische Fakultät der Universität Breslau ihren Jahrespreis zum Thema »Luthers Stellung zu den Juden« ausgeschrieben. Unter den anonymen Einsendungen ragte eine besonders hervor, und die Überraschung wird groß gewesen sein, als sich herausstellte, dass der Preisträger nicht nur Doktorand der philosophischen Fakultät, sondern noch dazu selbst ein Jude war.
Reinhold Lewin, Rabbiner und Luther-Forscher
Laut seiner Geburtsurkunde wurde Reinhold Lewin am 3. April 1888 um 12 Uhr mittags in eine Magdeburger Kaufmannsfamilie geboren, als Sohn von Jettel und Abraham Lewin. In der gleichen Stadt besuchte er das Gymnasium. In den Jahren 1906 bis 1912 durchlief er in Breslau am Jüdischen Theologischen Seminar eine Ausbildung zum Rabbiner. Zur selben Zeit studierte Lewin an der dortigen Universität Philosophie und Geschichte, wo er am 20. März 1911 mit der besagten Arbeit zum Thema »Luthers Stellung zu den Juden« promoviert wurde.
Bis 1913 arbeitete Lewin dann als Lehrer an einer Religionsschule in Breslau, um danach bei der Jüdischen Gemeinde in Leipzig eine Stelle zunächst als zweiter Rabbiner, dann als Gemeinderabbiner anzutreten. Wie berichtet wird, versah er im Ersten Weltkrieg eine »segensreiche Tätigkeit« als Feldrabbiner an der Westfront, wurde ausgezeichnet mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse und dem Ritterkreuz des Albrechtsordens I. Klasse mit Schwertern.
In der »Monatszeitschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums« schrieb Reinhold Lewin 1919 einen Aufsatz mit dem Titel »Der Krieg als jüdisches Erlebnis«. Zum Massensterben der vorangegangenen Jahre fand er nachdenkliche Worte:
»… der Angehörige unseres Stammes knallte niemals los, um des Losknallens willen. Er stach nicht nieder, weil er Gefallen dran fand, zu treffen und gen Boden zu strecken. Ich kann mir nicht ausmalen, dass irgendwo ein jüdischer Soldat einem verwundeten Feinde, der wehrlos ihn anflehte, den Garaus versetzte. Obgleich er zumeist größere Hemmung in sich überwand, bevor er das erste Mal anlegte und abfeuerte - er übte seine grausige Pflicht wie jeder andere. Freilich drückte manchen (der und jener gestand es) hernach in ruhiger Stunde desto schwerer die Erkenntnis, wie Unmenschliches, wie Unnatürliches um der Notwehr willen ihm auferlegt war. Daneben jedoch muss ich bezeugen, auf vielfältige Erfahrung gestützt: ich traf genug, denen man anmerken, denen man glauben durfte, dass die Ansprüche des Feldzugs ihnen nichts Fremdes, nichts Unerhörtes, nichts Widersprüchliches waren. Den jüngeren Jahrgängen zugehörig, umwehte sie ein Hauch des frisch-fröhlichen Krieges. Sie entstammten durchaus nicht Schichten, die vielleicht die übliche Anschauung restloser Assimilation hinzugesellt. So paradox es klingt, waren es oft jugendliche Zionisten, geweckte, entflammte Nationaljuden, in denen deutsches Draufgängertum sprühte.«
Daran, dass Lewin im Rückblick den Krieg nicht in Gänze verurteilte, wird deutlich, wie sehr er nicht nur an seiner jüdischen, sondern auch an seiner deutschen Identität festhielt. Reinhold Lewin verstand sich als jüdischer Patriot für das Deutsche Reich. In den deutschen Armeen kämpften in den Jahren 1914 bis 1918 mindestens 96 000 Soldaten mosaischen Glaubens - Männer aus allen Altersgruppen und sozialen Schichten, die, soweit sie die Front überlebten, ihre Bereitschaft, mit Leben und Gesundheit für ihr Vaterland einzustehen, noch bitter bereuen sollten. Denn schon in dieser Zeit forcierten sich die antisemitischen Ressentiments der christlichen Mehrheitsbevölkerung. Noch vor dem Aufkommen der Nazipartei war im Kirchlichen Jahrbuch 1919 über die Juden zu lesen:
»Viel ernster als diese, man könnte sagen, privaten Verfehlungen von Juden sind die Vorwürfe zu nehmen, die gegen die Judenheit im Großen erhoben werden und sie des unpatriotischen Verhaltens bezichtigen. Da wird ihnen vorgeworfen, dass sie im Interesse des international investierten Kapitals die Miesmacherei und Flaumacherei im Großen betrieben hätten. Sie werden für die eigentlichen Urheber der Friedensangebote angesehen. Sie sollen, um die Fortsetzung des Krieges unmöglich zu machen, die innere Front zermürbt haben.«
Reinhold Lewin erlebte die Weimarer Republik und die ersten Jahre der Nazi-Diktatur in Königsberg, Ostpreußen. In den Jahren 1920/21 bis 1938 wirkte er als reformorientierter Rabbiner in der dortigen jüdischen Gemeinde. Daneben war Lewin stellvertretender Vorsitzender des Verbandes für Jüdische Wohlfahrtspflege, Vizepräsident der Kant-Loge Königsberg sowie Mitglied im Reichsbund jüdischer Frontsoldaten.
Das Jahr 1927 brachte für Lewin ein Schlüsselerlebnis: Anlässlich der Einweihung des Tannenbergdenkmals hatten ihm die Veranstalter eine kurze Ansprache zugesichert, im Anschluss an die Reden der Vertreter der christlichen Kirchen. Proteste völkischer Gruppen führten jedoch dazu, dass man die Zusage zurücknahm und Lewin lediglich eine Redezeit außerhalb des religiösen Teils der Veranstaltung anbot. Lewin und mit ihm der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (RjF) sahen darin eine schwere Verletzung ihres religiösen Empfindens wie auch ihrer staatsbürgerlichen Gleichberechtigung, mit der Konsequenz, dass nicht nur Lewin und der RjF, sondern alle anderen jüdischen Vereine ihre Teilnahme an der Denkmalseinweihung absagten.
Was auf jüdischer Seite damals als ein Tiefpunkt der politischen Kultur empfunden wurde, erwies sich als Menetekel zukünftiger Entrechtung und Verfolgung. Und gerade Reinhold Lewin wusste um die jahrhundertealte Tradition des Antisemitismus in Deutschland, doch auch für ihn sollte die Gewöhnung an die alltägliche Hetze zur Falle werden. Bereits im ersten Jahr der NS-Diktatur 1933 erreichte der Judenhass ein nie zuvor gekanntes Ausmaß. Dass die »Rassenpolitik« der Nazis nicht nur auf Vertreibung ausgerichtet war, sondern auf Vernichtung der Juden wie auch der Sinti und Roma und weiterer Bevölkerungsgruppen, lag offenbar außerhalb Lewins Vorstellungen.
Martin Luthers Stellung zu den Juden
Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte sich Julius Streicher, Spiritus Rector des antisemitischen Hetzblattes »Der Stürmer«, bei den Nürnberger Prozessen mit den Worten verteidigen, »Dr. Martin Luther säße heute sicher an meiner Stelle auf der Anklagebank«. Denn, so Streicher weiter, »in dem Buch ›Die Juden und ihre Lügen‹ schreibt Dr. Martin Luther, die Juden seien ein Schlangengezücht, man solle ihre Synagogen niederbrennen, man solle sie vernichten«. - Ob Reinhold Lewin dieser Aussage zugestimmt hätte, kann nur vermutet werden. Seine Überblicksdarstellung aus dem Jahr 1911 unterscheidet sich jedenfalls in einem wichtigen Punkt vom Gros der neueren Literatur: Luthers Schriften, auch die Hasstraktate gegen die Juden, werden weder verteidigt noch relativiert und auch nicht in den Kontext seiner viel gerühmten Rechtfertigungslehre gesetzt. Ebenso wenig geht Lewin auf Luthers Lebensphasen ein oder auf den jeweiligen Stand der Reformation. Sein Kontext ist ein anderer: Nicht von den Hirngespinsten und Depressionen eines alten Mannes, dem 1542 die Tochter gestorben war, berichtet Lewin, sondern vom Elend der jüdischen Diaspora im ausgehenden Mittelalter. Und er findet klare Worte:
»… kein Jahr verstreicht, das nicht neue Verfolgungen heraufbeschwört, Verbannungen und Ausweisungen folgen einander ohne Aufhören. 1492 werden die Juden aus Mecklenburg herausgejagt, 1493 müssen sie das Erzstift Magdeburg verlassen, 1495 Reutlingen, 1496 reinigt man Steiermark, Kärnten und Krain von ihnen, 1499 setzen Nürnberg und Ulm die Ausweisung durch. 1506 tut Nördlingen desgleichen, nachdem Kolmar vorangegangen. 1510 findet in Brandenburg ein großer Hostienschändungsprozess statt. Als 1519 sogar Regensburg die Juden aus seinen Mauern ausschließt, von Rothenburg und Weißenburg zu schweigen, die 1520 dasselbe Muster befolgen, da gibt es in ganz Deutschland, wenn man von Prag absieht, nur noch zwei ansehnliche Gemeinden, die von Worms und Frankfurt am Main, und über deren Haupt schwebt fortwährend das Damoklesschwert (...). Ermisst man die ungeheure Summe der Not und des Elends, von denen die trockenen Zahlen predigen, so begreift man, mit welch elementarer Gewalt messianische Schwärmereien die verängstigten Gemüter gefangen nehmen und berücken mussten. Jedes Zeichen, das auf einen Umschwung der Verhältnisse hindeutet, wird begierig aufgegriffen; man horcht ängstlich in die Welt hinaus, ob nicht in irgendeinem Winkel der Erlöser sich zeige.«
In der Stellung Luthers zu den Juden unterscheidet Reinhold Lewin drei Phasen: eine »erste Periode der Gleichgültigkeit«, in der Luther den Juden mit Verachtung, aber ohne praktisches Interesse gegenübersteht. Etwa bis zum Frühjahr 1521 - das heißt bis zu Luthers Auftritt vor dem Reichstag in Worms - bleiben sie und ihre Schriften ihm fremd, was nicht zuletzt Luthers geringer hebräischer Sprachkenntnis geschuldet ist. Dem folgt eine Zeit der Hoffnung, die Juden würden sich dem neuen Evangelium anschließen. In diesem Sinne ist auch Luthers berühmte Schrift von 1523 zu verstehen: »Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei«. Luther sah in den Juden ein Objekt der Missionierung. Reinhold Lewin konstatiert:
»Die Bekehrung der Juden (...) bildet den Schlussstein in dem herrlichen Gebäude, das er aufgerichtet hat. Das Papsttum ist an der Aufgabe gescheitert, nicht nur, weil es falsche Mittel anwandte, sondern vor allem, weil sein Fundament auf Fälschungen und Irrlehren beruht. Hat Luther das wahre Christentum entdeckt - und er zweifelt nicht, dass es ihm gelungen ist -, so ist der endgültige Sieg der Kirche über die Synagoge die glänzendste Bestätigung.«
Als Luthers Werbung bei den Juden der Erfolg versagt bleibt, folgt die dritte Phase: Der Reformator steigert sich mehr und mehr in seinem Hass. Schon im Jahr 1531 oder 1532 soll er gesagt haben, falls er jemals wieder einen Juden zu taufen hätte, so werde er diesen auf die Elbbrücke führen, ihm dort einen Stein um den Hals hängen und ihn mit den Worten hinunterstoßen: »Ich taufe dich im Namen Abrahams.«
Die Saat des Judenhasses, die Luther ausstreut, so Reinhold Lewin am Ende seines Buches, schießt zu seinen Lebzeiten nur verkümmert empor:
»Sie geht aber nicht spurlos verloren, sondern wirkt noch lange durch die Jahrhunderte fort; wer immer aus irgendwelchen Motiven gegen die Juden schreibt, glaubt das Recht zu besitzen, triumphierend auf Luther zu verweisen.«
Lewins Martyrium und Yad Vashem
Im Jahr 1938 wurde Lewin nach Breslau versetzt. Ende desselben Jahres schickte er seinen 14-jährigen Sohn über Holland nach England - in Sicherheit. Manfred Lewin trat später in die britische Armee ein, ging bei Kriegsende nach Palästina und kämpfte im Unabhängigkeitskrieg in der israelischen Armee. Manfred Lewins jüngste Tochter, Orit Kapushevsky, die mit ihrer Familie in Israel lebt, berichtete dem Autor, dass ihr Vater 1998 starb. Er sei sehr traurig gewesen, er habe so gut wie nie über seine Königsberger Jahre gesprochen, also auch nicht über seine Eltern und Geschwister. Wie aus den Unterlagen der Familie hervorgeht, erhielt er im Juni 1959 von der Bundesrepublik Deutschland eine Zahlung in Höhe von 12 900 DM - »Entschädigung« für die Ermordung seiner Eltern und Geschwister.
In den Tagebüchern Willi Cohns, der vom Untergang der jüdischen Gemeinde in Breslau berichtet, finden sich mehrere Notizen über Reinhold Lewin. Cohn schreibt unter anderem, Lewin sei ein »Eisheiliger« gewesen. Im Eintrag vom 13. September 1941 lesen wir:
»Die Judenabzeichen, der ›Orden pour le sémite‹, wie der jüdische Witz sagt, sind aus Berlin eingetroffen und müssen in der nächsten Woche abgeholt werden; Lewin, dessen Predigt ich gestern nicht gehört habe, wie ja niemals, hat offenbar die Leute wieder sehr aufgeregt, wenn er ihnen auch sagte, dass sie den gelben Fleck mit Stolz tragen sollen.«
Und vielleicht hätte Reinhold Lewin sein Leben und das seiner Familie retten können, wenn er sich wie andere rechtzeitig um eine Ausreise bemüht hätte. So aber lesen wir im »Gedenkbuch des Council of Jews from Germany« unter seinem Namen:
»Den Versuchen seiner Freunde, ihn nach Amerika zu retten, war kein Erfolg beschieden, weil das amerikanische Generalkonsulat in Berlin die Erteilung des nötigen Visums verweigerte. So ist Reinhold Lewin mit seiner Frau und zwei Kindern zum Märtyrer geworden.«
Im jüdisch-christlichen Verständnis ist Gott das Versprechen, dass kein Mensch vergessen sein wird. Gott sagt: »Ich habe deinen Namen auf meine Handfläche geschrieben.« (Jesaja 49,16) Hand und Name auf Hebräisch: Yad Vashem.
Reinhold Lewin: Luthers Stellung zu den Juden. Hg. v. Karsten Krampitz. Alibri, 180 S., br., 16 €.
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