Wo fliegen sie denn, die Aerosole?
Was als wissenschaftlich gilt, legt nicht allein die Wissenschaft fest
Wie hält man’s mit der Wissenschaft? Die Frage stellt sich zurzeit immer wieder. So gehören die Ausgangssperren zwischen 22 und 5 Uhr zu den umstrittensten Elementen des neuen Infektionsschutzgesetz. Dass man schon von einer Liberalisierung spricht, weil der Beginn der Maßnahme um eine Stunde nach hinten verschoben wurde, ist ein Witz. Denn die mangelnde Wissenschaftlichkeit selbst müsste im Mittelpunkt der Kritik stehen. Schließlich haben fünf Aerosolforscher*innen in einem Offenen Brief auf folgenden Konsens innerhalb der Wissenschaft hingewiesen: »Die Übertragung der Sars-CoV-2 Viren findet fast ausnahmslos in Innenräumen statt. Übertragungen im Freien sind äußerst selten und führen nie zu ›Clusterinfektionen‹, wie das in Innenräumen zu beobachten ist.«
Die Forscher*innen monierten bereits am 11. April, dass die öffentliche Debatte immer noch nicht den wissenschaftlichen Erkenntnisstand abbilde. Viele Bürger*innen hätten falsche Vorstellungen über das Ansteckungspotenzial des Virus und seien der Meinung, dass es gefährlich sei, sich im Freien aufzuhalten. Die Verfasser*innen des Briefs benennen als eine Ursache dieser Fehlwahrnehmung die Berichterstattung über die von der Politik getroffenen Maßnahmen. Sie zählen dann einige der Maßnahmen auf, die aus ihrer wissenschaftlichen Sicht nicht vertretbar sind: das Verbot von Treffen in Parks, die Abriegelung von Innenstädten und Ausflugszielen für den Publikumsverkehr, die Sperrungen von Flussufern in zahlreichen Städten. Und sie warnen vor weiteren in ihren Augen falschen Politikmaßnahmen.
»Auch die aktuell diskutierten Ausgangssperren müssen in diese Aufzählung irreführender Kommunikation aufgenommen werden. Wir teilen das Ziel einer Reduzierung problematischer Kontakte in Innenräumen, aber die Ausgangssperren versprechen mehr als sie halten können.« Damit formulieren die Aerosolforscher*innen ein Ziel, das linke Gegner*innen der Ausgangssperren in den vergangenen Tagen in vielen Städten mit Protesten unter dem Motto »Schließt Fabriken, nicht Parks« zum Ausdruck gebracht haben. »Wir lassen uns nicht von der Regierung nachts einsperren, während wir tagsüber weiter zur Arbeit gezwungen werden, um für die Profite der Unternehmen zu schuften«, heißt es in einem Aufruf der Antinationalen Gruppe Bielefeld. Sie hören einfach auf die Wissenschaft, könnte man sagen - wenn dieser Satz nicht längst zu einer Floskel verkommen wäre, um die Zumutungen einer bestimmten Politik zu rechtfertigen.
Der Umgang mit den Aerosolforscher*innen, deren Brief weitgehend ignoriert und von dem sonst so wissenschaftstreuen Karl Lauterbach als bloße Meinungsäußerung abgetan wurde, macht den instrumentellen Umgang der Politik mit der Wissenschaft deutlich. »Wissenschaftlichkeit als solche ist niemals schon eine Garantie für die Wahrheit, und erst recht nicht in einer Situation, wo die Wahrheit so sehr gegen die Tatsachen spricht und hinter den Tatsachen liegt wie heute«, warnte der Philosoph Herbert Marcuse 1937 in seiner Schrift »Philosophie und kritische Theorie«. Das war weder damals noch ist es heute ein Plädoyer für die Abkehr von der Wissenschaft, wie es sich im Irrationalismus von großen Teilen der Querdenken-Bewegung beobachten lässt. Doch Linke sollten erkennen, dass Wissenschaft nicht unabhängig von Herrschaftsverhältnissen ist. An denen immerhin liegt es, dass weiterhin gänzlich unwissenschaftlich Parks und Flussufer gesperrt werden, während Fabriken offen bleiben sollen.
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