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  • »Alive and Kicking«

Im Ausnahmezustand

Albert Espinosas Serie »Alive and Kicking« erzählt von einer jugendlichen Schicksalsgemeinschaft

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein Dilemma realistischer Fiktion besteht darin, den Blick auf die Wirklichkeit zu trüben. Da unser Fernsehen von früh bis spät voller Morde ist, wird die Kriminalitätsstatistik oft um ein Vierfaches überschätzt. Da das Schnulzenfernsehen seine Darsteller dagegen ständig an sorglose Urlaubsorte schickt, gelten Probleme darin als inexistent. Auch die spanische Magenta-Serie »Alive and Kicking« beginnt folglich mit fröhlichen Kids im Sonnenschein - was man von einer Ferieninsel wie Menorca in einer Fernsehserie, die übersetzt »gesund und munter« hieße, halt erwartet.

Im Vorspann tollen vier Jugendliche im Pool und skaten lässig durch Altstädte. Schön. Aber der Schein trügt. Denn kurz darauf zoomt die Kamera auf einen davon, und das Licht verschwindet. Statt Urlaubserinnerungen schildert der 14-jährige Mickey die Sinnlosigkeit des Lebens, hält sich dann einen Revolver an den Kopf und drückt ab. Die Waffe ist zwar nur Requisit eines therapeutischen Rollenspiels von Dr. del Álamo, in dessen Obhut Mickey sich befindet, doch auch ohne Schuss wird ab der ersten von sieben Folgen klar: Die Psychiatrie im Grünen sorgt bei den Insassen für Fluchtimpulse - Menorca hin oder her.

Deshalb reißt der bipolare Teenager aus und nimmt drei Gleichaltrige mit: den neurotischen Vielfraß Sam, die depressive Rollstuhlfahrerin Guada und den aggressiven Neuling Yeray. Gemeinsam begibt sich das Quartett auf die Odyssee nach Ischia, wo Mickeys Bruder ein Hotel betreibt. Diese heiter-bedrückende Mischung aus Coming-of-Age und Ausbruchsdrama macht »Alive and Kicking« zum spanischen »Club der roten Bänder«, mit Fragmenten von »Einer flog über das Kuckucksnest« und »The End of the F***ing World« .

Anders als in Miloš Formans Nervenanstaltsdrama sind die Betreuer allerdings nicht irrer als ihre Patienten, sondern rührige Pädagogen. Und anders als in der Netflix-Serie entfliehen jugendliche Außenseiter hier nicht dem Korsett einer Normalität, die alles Unnormale sozial ausgrenzt; Mickey, Guada, Sam und Yeray sind seit jeher sozial Ausgegrenzte einer Gesellschaft, die alles Unnormale hinter Mauern aus Sedativen, Disziplinierung und falschem Mitgefühl steckt.

Keiner könnte dieses Gefühl jugendlicher Dissidenz glaubhafter machen als Drehbuchautor Albert Espinosa. Sein biografischer Film »Planta 4ª« diente dem deutschen »Club der roten Bänder« einst als Vorbild - und zwar aus eigener Krebserfahrung heraus, die ihn als Kind ans Bett diverser Kliniken fesselte, in denen sich Schicksalsgemeinschaften wie jene bei »Alive and Kicking« bildeten. Dieses desperate Zusammengehörigkeitsgefühl erzählt Espinosa mit einem Gespür fürs Kollektiv im Ausnahmezustand, das sich selbst in feindseliger Umgebung behauptet.

Verfolgt vom Privatdetektiv Izan (Miki Esparbé) und dem schizophrenen Klinikinsassen Lucas (Héctor Pérez), die ihnen der ehrgeizige Klinikchef Álamo (Àlex Brendemühl) auf den Hals hetzt, finden die Flüchtigen aber nicht nur ein Stück Freiheit, sondern bald auch sich selber. Und dabei ist es Roger Guals behutsamer Regie zu danken, dass seine Darsteller nicht nur ernstere Versionen von Pippi, Tommi und Annika auf der Flucht im fliegenden Auto sind. Obwohl die Momente der Lebenslust mitunter seifig geraten, sind Álvaro Requena (Mickey), Sara Manzano (Guada), Marco Sanz (Yeray) und Aitor Valadés (Sam) ja keinesfalls Sympa-thieträger.

Schließlich haben sie weder Gespür noch Verständnis dafür, warum die Welt nicht mit ihnen klarkommt. Gewalttätig, obsessiv, unberechenbar: Im eigenen Weltbild sind das nur die anderen. Pubertät eben - maximale Selbstbezogenheit bei minimaler Selbstreflexion. Darüber jedoch fällt Albert Espinosa kein Urteil, sondern stößt sein jugendliches Personal ins Meer der Erwachsenen und sieht ihm beim Kampf mit der Brandung zu. Es sei »scheiße, jung zu sein«, sagt Yeray zu Mickey, »sie sind größer und erfahrener«. Stimmt. Bis er bemerkt, dass beides nichts mit Metern und Jahren zu tun hat, sondern mit dem gelebten Leben. Genau davon erzählt »Alive and Kicking« so aufregend, klug und berührend, dass die zweite Staffel kommen kann. Nach dem großen Erfolg in Spanien ist sie angeblich schon in Arbeit.

»Alive and Kicking« läuft auf Magenta TV.

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