Normal queer

Die Serie »All You Need« zeigt Nicht-hetero-Leben, wie sie sind: mal heiter, mal wolkig, oft bunt, öfter grau

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 3 Min.

Diskriminiert zu werden, ist im Land der gut gepflegten Vorurteile schlimm genug, aber gleich doppelt, gar dreifach? Den schwulen Kreuzberger Levo etwa wertet die Mehrheitsgesellschaft zusätzlich dafür ab, dass er so sichtbar ausländische Wurzeln hat. Genau wie sein Schwarzer Kumpel Vince, dessen israelischer Freund Robbie auch noch in einer Resozialisierungsmaßnahme als Müllsammler steckt. Jude, Homo, Asi - so viele Diskriminierungsursachen nennt die Sozialwissenschaft »Intersektionalität«. Für Betroffene ist das alles andere als heiter. Normalerweise.

Doch was ist schon normal an einer ARD-Serie über das queere Berliner Leben? Eine Serie, die weit weg ist vom üblichen Betroffenheitsgestus öffentlich-rechtlicher Sozialdramen, aber noch größere Distanz zum Privatfernsehen pflegt, wo Mitglieder der LGBTQI-Gemeinde weiterhin oft mit abgespreiztem Finger herumstolzieren. Während Homosexuelle auch 44 Jahre nach dem ersten schwulen Fernsehkuss in Wolfgang Petersens »Die Konsequenz« vornehmlich als originelle Abweichung vom heterosexuellen Mainstream dienen, sind sie in »All You Need« genauso gewöhnlich wie die Hauptstadt selber. Und das hat einen Grund.

Nach eigenem Drehbuch hat der sehr talentierte, sehr neugierige Regisseur Benjamin Gutsche ein Nischenjuwel kreiert, in dem die intersektionale Diskriminierung der Protagonisten zwar permanent präsent ist, aber endlich mal nicht im Mittelpunkt steht. Und das, obwohl zwei seiner Hauptfiguren wandelnde Klischees sind. Gleich zu Beginn macht der androgyne Vince (Benito Bause) ein Dickpick genanntes Foto von seinem Penis und postet es auf einer Dating-App, bevor er mit seiner virilen Eroberung Robbie (Frédéric Brossier) zwei Minuten nach dem ersten Drink Oralsex auf dem Disco-Klo hat.

So stellt sich das Bürgertum halt Schwule vor. Oder wie Levos Schwester Mina (Mona Pirzad) es tags drauf beim Minigolf ausdrückt: »Weniger Liebe, Familie, Tradition, mehr Feiern, Flirten, Ficken.« Und tatsächlich: In den fünf Folgen von »All You Need« wird viel gefeiert, geflirtet, gefickt. Alles wie immer also? Mitnichten! Denn während sich Vince noch vom besoffenen One-Night-Stand erholt, zieht Mitbewohner Levo (Arash Marandi) nach Grunewald, wo sein Freund Tom (Mads Hjulmand) vorm Coming-Out mit 40 ein Spießerleben mit Frau, Kind, Auto, Haus geführt hatte und nun verbissen um Selbstachtung kämpft.

Ist also alles nicht so einfach mit einer Normalität, die alle Protagonisten wollen, aber gleichsam fürchten. 17 Jahre, nachdem Bully Herbig mit »(T)Raumschiff Surprise« das Klischee der Tunte in Blockbusterform goss, scheinen Film und Fernsehen zu merken, dass alternative Liebesformen weder schrill noch heikel, geschweige denn böse sind, sondern einfach nur, tja - Liebesformen. Zumindest unter Männern.

Frauen nämlich treiben es nach wie vor zwar in jedem Porno mit Frauen. Als Charaktere aber bleiben sie Ausnahmen. Abgesehen von solchen, die hier und da am Tanzflächenrand jener Clubs knutschen, wo die schwulen Charaktere um ihre Identität im heterosexuellen Umfeld ringen, kommt auch »All You Need« praktisch ohne Lesben aus. So gesehen ist die ARD also doch noch ein gutes Stück entfernt von der emanzipativen Wucht importierter Serien-Formate wie »Queer as Folks« oder »The L-Word«, von der Netflix-Serie »Pure« ganz zu schweigen.

Wenn allerdings ausgerechnet die schrille Partymaus Levo dem Ex-Hetero Tom erklären muss, er solle sich um seinen Teenager-Sohn kümmern; wenn die einzige Frau im queeren Freundeskreis Sarina (Christin Nichols) am souveränsten mit Intersektionalität umgeht; wenn Ursache und Wirkung mehrfacher Diskriminierung auch Vorurteile Betroffener wachruft, zeigt sich: »All You Need« ist mehr als eine schwule Serie. Schade nur, dass sie die ARD erst in der Mediathek, dann beim Ableger One versteckt, anstatt ihr mal etwas Primetime im Ersten zu gönnen. Ganz so weit sind wir dann halt doch noch nicht.

»All You Need« in der ARD-Mediathek

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