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Die lange Bank der Patentfreigabe
Eine WTO-Ausnahmeregelung könnte in einigen Monaten etwas bringen, doch gegen die Impf-Ungerechtigkeit gäbe es raschere Mittel
Der Druck auf die US-Regierung, einer Freigabe von Patenten für Covid-Impfstoffe zuzustimmen, wurde letztlich doch zu groß: Man werde sich aktiv an den Gesprächen in der Welthandelsorganisation (WTO) beteiligen, um Patentrechte etwa bei Corona-Impfstoffen vorübergehend aufzuheben, kündigte Washingtons Handelsbeauftragte Katherine Tai jetzt an. Die Welt müsse mit außergewöhnlichen Maßnahmen auf die globale Gesundheitskrise reagieren.
Hintergrund sind Debatten über einen Antrag, den Indien und Südafrika bereits im Oktober bei der Welthandelsorganisation gestellt hatten. Er sieht die Aussetzung bestimmter Aspekte des TRIPS-Abkommens über Rechte beim geistigen Eigentum bei Vakzinen, Heilmitteln und medizinischer Ausrüstung im Zusammenhang mit Covid-19 vor. Dem sogenannten Waiver müssten alle Staaten zustimmen - vor allem die USA und die EU-Länder legten bisher ihr Veto ein.
Seit Joe Biden die Amtsgeschäfte übernommen hat, wird in den USA verstärkt eine Positionsänderung verlangt. Experten und NGO-Vertreter starteten einen Appell, im April schlossen sich zahlreiche Demokraten im US-Kongress an. Die Forderung richtet sich übrigens auch direkt an die US-Regierung, denn die staatliche Gesundheitsbehörde NIH ist wegen gemeinsamer Forschung mit dem Hersteller Moderna selbst im Besitz wichtiger Grundlagenpatente bei mRNA-Impfstoffen. Die Patente könnte man sofort freigeben, der Umweg über die WTO hingegen dauert. Dass man sich aber überhaupt bewegt, dürfte auch damit zusammenhängen, dass die weit fortgeschrittene Impfkampagne in den USA wegen der Vielzahl von Skeptikern stockt und Impfdosen im Überfluss vorhanden sind.
Die Ungerechtigkeit bei der bisherigen Verteilung der Covid-Impfstoffe ist evident. 70 Prozent der bisherigen Bestellungen sollen in die Industriestaaten gehen. Die G7-Staaten werden laut Prognosen Ende des Sommers 2021 bereits überversorgt sein. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) kritisierte unlängst scharf, dass Afrika bisher einen Anteil von 2 Prozent an den Impfungen hatte - bei 16 Prozent der Weltbevölkerung. Auch wenn man berücksichtigt, dass der Kontinent weniger stark von Corona betroffen ist als andere Regionen, ist das ein eklatantes Missverhältnis.
Doch bringt eine Patentfreigabe die weltweite Immunisierung im Globalen Süden überhaupt voran? Die Antwort lässt sich nicht pauschal geben und unterscheidet sich bei den verschiedenen Impfstoffarten. Bei den mRNA-Impfstoffen ist die Aussicht negativ. Der US-Hersteller Moderna hatte bereits im Oktober 2020 bekannt gegeben, die Patentrechte auf seinen Covid-19-Impfstoff nicht durchsetzen zu wollen. Dies hatte wohl vor allem Imagegründe, und bis heute hat niemand auf die Patente zugegriffen. Da es sich um ein völlig neues Herstellungsverfahren handelt, kann mit den Patenten - es dürfte sich je Vakzin um einige Dutzend handeln - eigentlich niemand etwas anfangen. Auch für die großen Pharmakonzerne ist das Neuland, sie müssen als Juniorpartner von kleinen Biotechfirmen wie Moderna, Biontech oder Curevac erst mühsam angelernt werden. Bis ein einzelnes Werk für die Massenproduktion errichtet oder umgerüstet ist, dauert es viele Monate.
Um bei mRNA-Impfstoffen die Produktion ausweiten zu können, braucht es vor allem Kooperationen. Große Konzerne haben Erfahrung mit Massenproduktion, und sie verfügen über ausreichend Kapital. Solche Kooperationen gibt es: Biontech etwa lässt von Pfizer produzieren, in China hat Fosun Pharma aus Shanghai die Kommerzialisierung übernommen. Also müsste es darum gehen, solche Lizenzkooperationen auszuweiten. Dies könnten Staaten finanziell unterstützen. Es gäbe für die Herstellerländer eine weitere Variante: »Das TRIPS-Abkommen würde es den Mitgliedstaaten erlauben, eine besondere Form der Zwangslizenz zu statuieren, damit Pharmazeutika ausschließlichen für den Zweck des Exports in jene am wenigsten entwickelte Länder hergestellt werden dürfen, die dazu nicht selbst in der Lage sind«, erläutert Reto Hilty, Direktor am Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb.
Für die Produktion müssten aber letztlich das gesamte Know-how und auch die Grundlagenpatente weitergegeben werden. Da es um ein neuartiges Verfahren geht, dem man große Zukunftsperspektiven auch bei anderen Krankheiten bescheinigt, werden weder die USA noch die EU dazu bereit sein. Deren Pharmaindustrien erklären seit Wochen, in diesem Falle würden Forschung und Innovation auch an Vakzinen gegen neue Sars-CoV-2-Mutanten kaum noch weitergeführt werden. Ob dies eine leere Drohung ist, lässt sich nicht beantworten. Aber die Lobby stößt damit auf offene Ohren.
Eine Ausweitung der Produktion von mRNA-Impfstoffen würde aber auch an praktischen Problemen scheitern. Bei wichtigen Vorprodukten gibt es eine globale Knappheit. Für modifizierte Guanin-Nukleotide, die quasi als Kappe des Impfstoffmoleküls dienen, gibt es nur einen Hersteller, bei Lipid-Nanopartikeln, die die mRNA quasi verpacken und für einen besseren Transport in den Körperzellen sorgen, kaum mehr als eine Handvoll.
Bei anderen Covid-19-Impfstoffarten sieht die Sache anders aus. Vektorimpfstoffe, bei denen harmlose Viren und ein Wirkverstärker die Immunreaktion auslösen, wurden schon während der Ebola-Epidemie produziert. Totimpfstoffe, bei denen inaktivierte Virusbestandteile verabreicht werden, sind schon länger im Einsatz, auch gegen Hepatitis B oder Influenza. »Bei den herkömmlichen Impfstoffen existieren die Lieferketten bereits«, erläutert Sebastian Ulbert vom Fraunhofer-Institut für Zelltherapie und Immunologie. »Die massenhafte Herstellung von Viren ist etwas, das in den letzten Jahrzehnten schon gut etabliert wurde. Jetzt geht es hier um die Herstellung dieser spezifischen Viren für die Sars-CoV-2-Impfstoffe.«
Da technologische Kenntnisse in einigen Ländern ebenso vorhanden sind wie etwas Erfahrung mit der Produktion, könnte eine Patentfreigabe möglicherweise helfen. Nicht schnell, aber eventuell bis Ende 2021, vermuten Experten. Allerdings wird der Vektorimpfstoff von Astra-Zeneca bereits in allen Kontinenten außer Afrika hergestellt (Südafrika ist wegen unklarer Wirksamkeit gegen die dort grassierende Virusmutante skeptisch), große Mengen davon in Indien beim weltgrößten Impfstoffhersteller. Astra-Zeneca kritisiert bereits, dass Indien große Mengen hortet und nicht wie vereinbart an andere arme Staaten liefert. Der Subkontinent leidet aktuell unter einer gewaltigen Infektionswelle. Das Problem sind nicht Patente, denn man produziert zwei Vakzine, darunter einen selbst entwickelten, sondern zu geringe Produktionskapazitäten und eine kaum vorankommende Impfkampagne.
Eine Patentfreigabe würde andere als Astra-Zeneca treffen: den US-Konzern Johnson & Johnson etwa sowie vor allem Produzenten in China und Russland. Beide Länder beliefern bereits in zahlreiche Staaten des Globalen Südens und nutzen dies zum Ärger der USA für außenpolitische Zwecke. Damit wäre es vorbei, würden Hersteller aus anderen Ländern selbst in die Produktion einsteigen. Ist der Kurswechsel der US-Regierung in der Patentfrage also auch ein geschickter außenpolitischer Schachzug?
Kaum eine Rolle in der Patentdebatte spielen Produkte jenseits der Impfstoffe. Dabei sind etwa Therapien bei Covid-19-Erkrankungen nicht weniger wichtig als Impfstoffe. Hier könnte eine günstige Generikaproduktion von Medikamenten dank Kapazitäten etwa in Indien wichtige Dienste in der Pandemiebekämpfung leisten.
Zurück zu den Impfstoffen: Eine Patentfreigabe würde vielleicht in einem halben Jahr etwas bringen. Es könnte auch noch länger dauern, da etwas veränderte Impfstoffe auf Grundlage der Patente neue Zulassungsverfahren durchlaufen müssten. Nicht nur der Blick nach Indien zeigt aber, dass schnellere Lösungen gefragt wären. Es läuft ja in vielen Regionen eine gewaltige Massenproduktion der diversen Covid-Impfstoffe. Das Problem sind der relativ hohe Preis bei mRNA-Impfstoffen - hier könnten die Heimatstaaten Druck machen -, und vor allem die Verteilung: Die reichen Industrieländer hätten sich 1,9 Milliarden Impfdosen mehr gesichert, als sie für eine Herdenimmunität in den eigenen Staaten benötigten, kritisiert Tom Hart, Geschäftsführer der Entwicklungsorganisation One. Diese müssten umgeleitet werden.
Der Faktor Zeit spielt aber auch mit Blick auf den WTO-Waiver selbst eine kritische Rolle: Der vorgeschlagene Verzicht auf Patentrechte würde nur für die Dauer der Pandemie gelten. Da in vielen Staaten Impfkampagnen gut vorankommen und andere Länder die Seuche mit bestimmten Maßnahmen unter Kontrolle haben, wird die WHO irgendwann die Pandemie für beendet erklären. Dann werden einige arme Staaten noch mit Corona-Wellen zu kämpfen haben - und mit den üblichen Tropenkrankheiten sowieso.
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