French Theory war gestern

Der neue Trend heißt Italian Theory: Die philosophische Strömung kritisiert, dass staatliche Macht heute im Gewand der Biopolitik daherkommt - über einige deutschsprachige Neuerscheinungen vor dem Hintergrund des pandemischen Ausnahmezustands

  • Jakob Hayner
  • Lesedauer: 8 Min.

Es war im Jahr 2010, als Byung-Chul Han in seinem Bestseller »Müdigkeitsgesellschaft« das Ende des immunologischen Zeitalters verkündete. »Der Gegenstand der Immunabwehr ist die Fremdheit als solche«, schrieb der Philosoph. Das habe sich aber am Beginn des fluiden und grenzenlosen 21. Jahrhunderts erledigt. Das war vor allem gegen Roberto Esposito und sein Werk »Immunitas« von 2004 gerichtet. Das erlebt nun, versehen mit einem aktuellen Vorwort aus bekannten Gründen, eine Neuauflage. Esposito hatte behauptet, mit dem Aufkommen der Idee der Immunität ein sogenanntes Grundparadigma moderner Gesellschaften beschreiben zu können. Recht, Medizin, Politik sind die Bereiche seiner durchaus nicht einfach zu lesenden Untersuchung mit dem Untertitel »Schutz und Negation des Lebens«.

Die verwundbaren Infrastrukturen, so der technische Ausdruck, müssten geschützt werden und sich immunisieren - gegen Viren und Cyberattacken, aber auch gegen Flüchtlinge und Terroristen. Nach den Angriffen vom 11. September 2001 verlautbarte der US-Präsident George W. Bush, die Nation sei nicht länger immun. Nun, in den Zeiten der Herdenimmunität und Immunitätsausweise, kommt die Unterscheidung von Innerem und Äußerem, von Eigenem und Fremdem zurück. Für Esposito ist das einer eigenen Dialektik unterworfen, allein weil Immunisierung den Kontakt zu dem Negativen benötigt und geradezu umwandelt. Vor allem aber ist es für ihn der Versuch, eine chaotische Welt nach klaren Kriterien zu ordnen und somit kontrollier- und regierbar zu machen. Biopolitik nennt er das.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Paradigma der Biopolitik

Esposito ist bei Weitem nicht der einzige, der von Biopolitik spricht. Insbesondere in der italienischen Philosophie der vergangenen Jahrzehnte hat der Begriff eine zentrale Stellung eingenommen. Giorgio Agamben, der als junger Mann in Filmen von Pier Paolo Pasolini spielte und als Übersetzer und Herausgeber von Walter Benjamin bekannt wurde, hat mit seinem »Homo sacer«-Projekt diese Verbindung von Macht und nacktem Leben sowie den Ausnahmezustand ins Zentrum seines Denkens gestellt. Und »Empire - die neue Weltordnung« von Michael Hardt und Antonio Negri, ein Klassiker des Neomarxismus, setzt mit der Kritik der Biopolitik ein. Das gesunde und produktive Leben wird zum Gegenstand des Regierens - und damit reglementiert und unterworfen, so die These.

Sowohl Agamben als auch Hardt und Negri beziehen sich damit auf die Arbeiten des 1984 verstorbenen französischen Philosophen Michel Foucault. Doch die italienische Relektüre hat sich verselbstständigt. Inzwischen ist sie unter dem Namen »Italian Theory«, »Italian Thought« oder »Italian Difference« bekannt. Der kürzlich auf Deutsch erschienene Band »Italian Theory« bietet eine gute Einführung in dieses Denken. Neben einem frühen Text von Agamben und Negris Reflexionen zu seiner Foucault-Lektüre findet sich darin unter dem Titel »Der italienische Unterschied« das erste Kapitel von Espositos »Lebendes Denken. Ursprung und Aktualität der italienischen Philosophie« von 2010, neben Dario Gentilis »Italian Theory. Vom Operaismus bis zur Biopolitik« von 2012 einer der Gründungstexte der Italian Theory.

Nun soll mit dem italienischen Unterschied keineswegs eine unveränderliche Bindung an ein Territorium oder eine Abgeschlossenheit gegenüber anderen Einflüssen betont werden, das würden auch weder die Wohn- und Arbeitsorte der Protagonisten noch ihre Lektüren einlösen. Man dürfte es sich eher wie eine besondere Konstellation vorstellen. Bei Hegel gibt es die hübsche Idee, dass der Weltgeist wandert. Das Universale hat keinen festen Ort - wie die Weltrevolution, die sich von Frankreich und Haiti über Russland und China bis Kuba und den Kongo bewegt. Folgt man nun Esposito, hat der illusionslose Blick des italienischen Denkens auf die Mechanik der Macht einerseits damit zu tun, dass die italienische Philosophie von Macchiavelli bis Gramsci auf Macht, Politik und Leben schaut - im Gegensatz zur Bewusstseinsphilosophie in Frankreich und Deutschland oder zur pragmatischen Morallehre der angelsächsischen Länder.

Andererseits habe der italienische Unterschied mit den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zu tun, das sind »die intensive Arbeitermilitanz der 1960er Jahre, die sozialen und kulturellen Experimente der 1970er Jahre und die Repression der 1980er Jahre«, wie es in »Radikales Denken in Italien: Eine mögliche Politik« von Paolo Virno und Hardt heißt. Mit einschneidenden gesellschaftlichen Erfahrungen waren auch die deutsche Philosophie durch Nationalsozialismus und Exil wie die berühmte French Theory des Poststrukturalismus und der Dekonstruktion konfrontiert, die - bleibt man im Bilde des wandernden Weltgeistes - vorhergehende Stationen des radikalen Denkens der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren. Und die sich in dem Bezug auf Benjamin oder Foucault auch erhalten haben.

Krise und Regierung

Gemeinsam ist den Denkern der Italian Theory ein emphatischer Bezug auf die Idee des Kommunismus und eine rücksichtslose Kritik heutiger Herrschaft, ihrer Institutionen und Ideologie. Neben den erwähnten Agamben, Esposito, Hardt, Negri, Virno und Gentili ist noch Maurizio Lazzarato zu nennen. Bekannt geworden durch seine Kritik des Neoliberalismus mit »Die Fabrik des verschuldeten Menschen«, hat Lazzarato mit »Der Staat gegen die Gesellschaft« einen der interessantesten Texte zu dem Band »Italian Theory« beigetragen. Nicht nur sieht er in der bundesrepublikanischen Staatlichkeit nach 1945 schon die »marktkonforme Demokratie« angelegt, die auch Angela Merkel preist, er schlägt zudem eine andere Sicht auf den Neoliberalismus als solchen vor. Der sei nämlich weit entfernt davon, nur den Laissez-faire-Staat zu wollen, wie es Bill Clinton 1996 mit seinem Abschied vom »big government« andeutete.

»Der Maximalstaat ist, wie die gegenwärtige Krise zeigt, mit dem Neoliberalismus vollkommen vereinbar«, schreibt Lazzarato, wobei er hier die Finanzkrise ab 2007 meint. In deren Folge sei es zu einer doppelten Intervention durch den Staat gekommen, zunächst für die Märkte, dann gegen die Gesellschaft: Schulden und Austerität. Zu überlegen wäre, ob sich gegenwärtig nicht ähnliches beobachten lässt: ein Eingreifen, um das kaputt privatisierte Gesundheitswesen als solches unverändert zu belassen und dafür mit bevölkerungspolitischen Maßnahmen durchzuregieren. Für Lazzarato zeigt das Agieren in solchen Krisen, wie sich die Idee der Eigentümerdemokratie verfestigt - und die einer radikalen Demokratie schwindet. Lazzaratos Ansatz zeigt ex negativo aber auch eine Schwäche der Italian Theory, die Vernachlässigung der Kritik der politischen Ökonomie. Das wirkt sich auch auf den Begriff der Macht aus, der vor allem im Sinne einer Kontrollgesellschaft verstanden wird.

Gentilis »Krise als Regierungskunst« ist eine weitere deutschsprachige Neuerscheinung. Er untersucht zunächst die Bedeutung von Krise in Medizin, Recht, Politik und Ökonomie, bevor er sich der Gegenwart widmet. »Denn mit dem Neoliberalismus gibt sich die herrschende Klasse als Vertreter der ›Partei des Lebens‹ aus«, schreibt er - wobei der Ausdruck »Partei des Lebens« als scheinbar unpolitische Theologie von dem Vordenker des Neoliberalismus Friedrich August von Hayek stammt. Krisen erscheinen aus Perspektive der Souveränität vor allem als ordnungspolitisches Problem, sie dienen gar der Selbstimmunisierung des Kapitalismus, so Gentili. Als Folge alternativloser Krisenregierung sieht er Oppositionen ohne Lösung entstehen, das politische Spektakel von Entscheidungen, die nichts mehr zu entscheiden haben - wie der Brexit. Die Macht jedoch verstetigt sich in dem scheinbar unpolitischen Zugriff auf die Körper durch die »Partei des Lebens«.

Politik des Ausnahmezustands

Eine weitere Neuerscheinung im Zuge der Italian Theory ist noch zu erwähnen: »An welchem Punkt stehen wir? Die Epidemie als Politik« versammelt kurze Texte von Agamben aus den vergangenen Monaten, in denen er vor allem Erstaunen und Ablehnung gegenüber der Pandemiepolitik zum Ausdruck bringt. Was ist das unerlaubte Verlassen der Wohnung gegen die Zerstörung des Gesundheitswesens, fragt er. Wobei für ihn als Denker des Ausnahmezustands das Eintreten desselben im Grunde wie die Erfüllung einer dystopischen Prophezeiung gewesen sein dürfte. Die Biopolitik habe sich nun zur Biosicherheit weiterentwickelt, die das nackte Leben mit dem Zustand permanenter Angst verbindet. Alle anderen Überzeugungen hätten sich dem unterzuordnen. Agamben weist mehrfach darauf hin, dass ihm nicht an einer medizinischen Beurteilung gelegen ist, sondern allein an den politischen und ethischen Auswirkungen. An seinen Einschätzungen gab es Kritik, fundiertere und weniger fundierte. Agamben bestreitet jedoch nicht die Existenz einer Epidemie, sondern fragt im Sinne der Kritik der Biopolitik vor allem nach ihrer Bedeutung. »Was diese Pandemie so beispiellos macht, ist nicht das Virus, sondern die Reaktion darauf«, schreibt der Medizinhistoriker Carlo Caduff.

Die philosophische Kritik der Italian Theory versuchte schon vor März 2020 die Mechanismen zu beschreiben, durch die sich moderne Macht konstituiert - konfrontiert mit dem Schreckbild des unkontrollierbaren Chaos und äußerer Bedrohung. Sollte die Verhaltenssteuerung scheitern und die Bevölkerungen sich unregierbar zeigen, steht die bloße Gewalt bereit, wie kürzliche Verlautbarungen von Militärs in Spanien und Frankreich zeigten. Dass das immunologische Zeitalter nicht vorbei ist, zeigt auch die Etablierung des Lockdowns als Mittel der Politik - entwickelt im Auftrag von Bush als Schutz der immunschwachen USA vor bioterroristischen Angriffen und Seuchen, wie es in einem Artikel in der »New York Times« heißt. So anregend die Lektüre der jüngeren italienischen Philosophie ist, eines ist sie sicher nicht: beruhigend. Im Gegenteil führt sie in die Verunsicherung, die der Grund jeder gesellschaftskritischen Reflexion ist.

Antonio Lucci, Esther Schomacher, Jan Söffner (Hg.): Italian Theory. Merve, 304 S., br., 24 €.

Roberto Esposito: Immunitas. Schutz und Negation des Lebens. Diaphanes, 256 S., br., 25 €.

Dario Gentili: Krise als Regierungskunst. Merve, 200 S., br., 20 €.

Giorgio Agamben: An welchem Punkt stehen wir? Die Epidemie als Politik. Turia + Kant, 155 S., br., 15 €.

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