Den Peiniger überlebt

Die Odyssee der Auschwitz-Häftlinge Alter Fajnsilber, Roman Kent und Noah Flug

  • Ingrid Heinisch
  • Lesedauer: 6 Min.

Er ist durch den spanischen Bürgerkrieg gekommen, wurde in Auschwitz fast zu Tode geprügelt - aber er hat den faschistischen Terror überlebt. Alter Fajnsilber erinnert sich: »Als am 8. Mai ’45 der russische Kommandant uns mitteilte, dass wir nun endgütig frei seien, fragte er mich, warum ich nicht glücklich sei und mit den anderen lache. Ich antwortete: ›Lachen - warum?‹ Und er: ›Nun, Sie sind doch frei.‹ Ich sagte: ›Wenn Sie mir vor zwei Jahren gesagt hätten, der Krieg sei aus, dann wäre ich glücklich gewesen. Aber jetzt? Es gibt keine Juden mehr, es ist aus mit ihnen. Worüber also sollte ich glücklich sein? Er hat mich verstanden und mir zugestimmt. Für die anderen gab es Grund zu feiern, zu tanzen und zu singen. Für uns nicht, denn wir wussten, dass es in Europa keine Juden mehr gab.«

Die Freude über die Befreiung war bei allen Überlebenden der Konzentrationslager zwiespältig. War sie doch immer mit der Erinnerung an ihre Verwandten und Freunde verbunden, die im Krieg gefallen waren oder die Lager nicht überlebt hatten. So gab es für Alter Fajnsilber keine Familie mehr, zu der er zurückkehren konnte, keinen Ort, an dem er sich hätte heimisch fühlen können.

Ähnlich erging es auch den Gebrüdern Roman und Leon Kent aus Łódź. Ihr Vater war vor dem Krieg Fabrikbesitzer. Sie hatten eine behütete Kindheit erlebt. Aber dann brach über sie, so Roman Kent, ein sechsjähriger Albtraum herein: erst im Ghetto von Łódź, dann in Auschwitz, danach in etlichen anderen Lagern, zuletzt in Flossenbürg. Von dort aus ging es auf einen scheinbar endlosen Todesmarsch - bis sie irgendwo im Westen Deutschlands auf ihre US-amerikanischen Befreier trafen. Roman berichtet: »Es war der vierte Tag auf dem Todesmarsch. Ich sagte zu Leon, der wie ein Zombie neben mir daherschlich: ›Vielleicht ist das mein letzter Tag, ich kann nicht mehr. Wie lange noch, und ich liege auch am Straßenrand?‹« Und dann geschah das Unerwartete: Panzer rollten ihnen entgegen. Aus den Luken grüßten Soldaten. »In diesem Moment war ich zu betäubt, um zu verstehen, dass ich frei war. Ich gehörte noch nicht zu dieser Welt. Es war wie im Traum, alles um mich herum war vollkommen irreal. Der Übergang vom Terror im Konzentrationslager zur Freiheit geschah so plötzlich, dass mein Verstand seine Bedeutung nicht ganz fassen konnte. Leon und ich standen da am Rande der Straße, vollkommen überwältigt davon, wie Essen auf uns herabregnete. Um uns herum versuchten die Häftlinge möglichst viel davon zu ergattern. Eine kafkaeske Szene.«

Roman Kent war damals 16 Jahre alt, Leon 14. Sie erwogen kurz, in ihre polnische Heimat zurückzukehren, aber die mit einer Rückkehr verbundenen düsteren Erinnerungen wogen zu schwer. Blieb die Wahl zwischen Palästina und den USA. Sie entschieden sich für Amerika und wandten sich an die Nothilfe- und Wiederaufbauverwaltung der Vereinten Nationen, UNRRA. Roman Kent wurde in der »Neuen Welt« ein erfolgreicher Geschäftsmann. Wenn er seinen Kindern und Enkeln Einblick in sein früheres Leben gibt, spricht er vor allem über den geliebten Familienhund Lala.

Als die Familie aus einer großen Villa in eine winzige ungeheizte Zweizimmerwohnung im Ghetto umziehen musste, ließ sie die trächtige Hündin bei Freunden zurück. Doch kaum hatte Lala geworfen, kam sie hinterher. Die treue Hündin wollte bei den Ihren sein, versorgte tagsüber ihre Welpen und kratzte abends an der Tür der Kents. Sie war nicht der einzige Hund im Ghetto. Eines Tages jedoch erließen die Deutschen einen Befehl, dass alle Haustiere abgegeben werden müssen. Jeder wird verstehen, dass daran ein Kinderherz zerbrechen kann. Die Tragödie der Trennung von einem geliebten Tier vermag die Jüngsten die Verbrechen der Nazis eindringlicher nacherleben lassen als alle anderen Erzählungen, dachte sich Roman Kent, Vorsitzender des Internationalen Auschwitz-Komitees, und schrieb daher ein Kinderbuch: »Mein Hund Lala«.

Sein Vorgänger an der Spitze des Internationalen Auschwitz-Komitees war Noah Flug. Auch er stammte aus Łódź. Zwei Tage vor Kriegsende befand er sich im österreichischen Ebensee, einem Nebenlager des KZ Mauthausen, wo er im Steinbruch arbeiten musste. Die SS plante dort riesige Stollen für die Rüstungsindustrie. Noahs Leidensweg glich dem der Gebrüder Kent: erst Ghetto, dann Auschwitz, wo seine ganze Familie ermordet wurde, und schließlich Todesmarsch nach Ebensee, wo die Häftlinge vollkommen entkräftet eintrafen. Empfangen wurden sie von einem Spalier der Kapos, die mit Stöcken auf sie einschlugen.

Am 5. Mai, drei Tage vor der Kapitulation der Wehrmachtsführung in Berlin-Karlshorst, trieb die SS die Häftlinge in einem Steinbruch zusammen, um sie dort mit Dynamit zu liquidieren. Diese setzten sich jedoch zur Wehr - die SS floh. Und die Häftlinge nahmen Rache an den Kapos. Eine schreckliche Erinnerung: »Ich konnte die anderen verstehen, aber ich konnte es nicht ertragen, dass wir uns nicht besser benahmen als unsere Peiniger.«

33 Kilo wog Noah Flug bei seiner Befreiung. Er kehrte nach Łódź zurück, kam in einer Wohngemeinschaft für elternlose Jugendliche unter, lernte Dorothea kennen, heiratete sie und ging mit ihr 1958 nach Israel. Er wurde dort Diplomat, sie Kinderärztin. Der diplomatische Dienst führte Noah Flug für zwei Jahre zurück nach Deutschland, in die Bundesrepublik. Das Paar hat versucht, ein normales Leben zu führen. Doch es blieb für beide ein Leben im Schatten von Auschwitz.

Lesen Sie auch: Staatsziel: Massenmord - Vor 80 Jahren wurde mit Hitlers Segen der faschistische Unabhängige Staat Kroatien gegründet

Alter Fajnsilber wiederum hatte sein ganzes Leben dem politischen Kampf und der Kommunistischen Partei gewidmet, war schon vor dem Krieg immer wieder verhaftet worden. In Auschwitz war er dem sogenannten Sonderkommando zugeteilt, dessen Aufgabe es war, die Leichen der vergasten Juden nach verwertbaren Gegenständen zu durchsuchen, bevor sie verbrannt wurden. Alter wusste, dass auch er und seine Kameraden dem Tode geweiht waren. »Wir haben mit dem Rabbiner in unserem Kommando gesprochen, warum Gott das zulässt ... ›Was haben diese Menschen getan, dass sie vergast werden. Was haben sie Gott getan - oder ihre Kinder, was haben sie getan?‹ Darauf der Rabbiner: ›Wenn wir wüssten, dass wir noch lange leben, dann würden wir nicht mehr an Gott glauben. Aber da wir wissen, dass wir bald sterben werden, wollen wir sterben, so wie wir gelebt haben: als Juden, die an Gott glauben.‹«

Alter blieb Atheist, nahm am fehlgeschlagenen Aufstand des Sonderkommandos teil, konnte aber der »Vergeltung« der SS entkommen. Nach der Befreiung ging er nach Paris. Richtig glücklich sei er nie geworden, erzählte er, obwohl er geheiratet hat und Vater wurde. Mit 75 Jahren besuchte er 1985 zum ersten Mal wieder Polen, seine einstige Heimat, um in der Gedenkstätte Auschwitz Zeugnis abzulegen. Damals wurden die internationalen Gäste in den ehemaligen Büros der SS untergebracht. Und so saß Alter Fajnsilber in einem Ohrensessel, in dem sich einst Rudolf Höß gelümmelt hatte, 1940 bis 1943 Kommandant des KZ Auschwitz und 1947 von den Polen als Kriegsverbrecher zum Tode durch den Strang verurteilt und am Ort seiner Verbrechen, im ehemaligen Stammlager, mit dem Strang exekutiert. Der Antifaschist Alter Fajnsilber hat seinen einstigen Peiniger, den mörderischen Nazi, um Jahrzehnte überlebt.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -