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- Pressefreiheit in Russland
»Eigentlich hatten wir keine Angst«
Ekaterina Moroko vom studentischen Onlinemagazin »Doxa« über kritische Presse in Russland und wie sie unterdrückt wird
Am 14. April durchsuchte die Polizei das Redaktionsbüro des studentischen Onlinemagazins »Doxa« in Moskau. Vier Redakteur*innen wurden festgenommen und stehen für zwei Monate unter Hausarrest. Sie dürfen nicht mit der Außenwelt kommunizieren oder das Internet nutzen. Noch läuft die Untersuchung, und es ist unklar, ob sie zu weiteren Strafen verurteilt werden.
Der Vorwurf gegen die Journalist*innen lautet, dass sie Minderjährige zur Teilnahme an Protesten aufgerufen hätten. Anlass war ein Video, das die »Doxa«-Redaktion auf ihrer Seite veröffentlichte. Es ging um den Versuch russischer Universitäten, ihren Studierenden die Teilnahme an Demonstrationen zu verbieten. Im Video wurde klargestellt, dass eine Universität kein Recht zu einem solchen Verbot habe. Ekaterina Moroko ist seit zwei Jahren in der »Doxa«-Redaktion. Sie studiert Data Journalism an der Higher School of Economics (HSE) in Moskau. Mit der Verhaftung ihrer Kolleg*innen hatte sie nicht gerechnet: »Ich war überrascht, obwohl wir alle wissen, dass Meinungs- und Medienfreiheit in Russland sehr beschränkt ist. Eigentlich hatten wir keine Angst, dass wir solche Probleme bekommen könnten, denn wir sehen uns als studentisches Medium.«
Aber »Doxa« sticht heraus aus den studentischen Publikationen in Russland, bei denen es oft darum geht, positiv über die eigene Universität und deren Erfolge zu berichten. »Wir haben versucht, das ein wenig kritischer zu machen und kritisch über die Uni, über das System und die Probleme, die Studenten und Professoren haben, zu berichten«, erzählt Moroko. Ein großer Beitrag beschäftigt sich zum Beispiel mit Frauen an den Universitäten und dem akademischen Gender-Gap in Russland, Kasachstan und Kirgistan. Für eine investigative Recherche über die Privilegierung von Beamtennachwuchs bei der Studienplatzvergabe hat »Doxa« sogar einen Journalismuspreis bekommen.
Bis 2019 war »Doxa« ein offizielles Medium der HSE. Aber als sie häufiger über politische Themen schrieben - zum Beispiel über die Demonstrationen für faire Kommunalwahlen im Sommer 2019 in Moskau -, kam es zu Konflikten mit der Universitätsleitung. Nur wenn sie ausschließlich über die Universität schrieben, dürften sie die studentische Publikation der HSE bleiben. Also entschied sich die Redaktion dafür, unabhängig zu werden. »Das war eigentlich ein erstes Signal, dass wir irgendwie oppositionell wirken, obwohl wir das nicht geplant haben. Wir haben einfach versucht, über die Themen zu schreiben, die für uns als Studenten wichtig sind. Und natürlich gehört Politik auch zu den Themen, die uns interessieren. Wir können nicht darüber schweigen, wenn Studenten auf die Straßen gehen und protestieren.«
Dass sich Studierende in Russland politisch engagieren und an Protesten teilnehmen, ist nach Ekaterina Morokos Erfahrung aber eher die Ausnahme. Denn viele müssen sich das teure Studium selbst finanzieren und arbeiten viel. »Unsere Studenten haben eigentlich gar keine Zeit, zu protestieren.« »Doxa« ist ein Versuch, Studierende dabei zu unterstützen, sich zu engagieren und für ihre Rechte einzutreten. »Ich glaube, wir machen das teilweise ganz erfolgreich. Vielleicht ist das der Grund, warum wir so interessant geworden sind für unsere Behörden.«
Im Herbst sind Parlamentswahlen in Russland, was wahrscheinlich der Grund ist, warum die Behörden gerade wieder vermehrt gegen Proteste und kritische Medien vorgehen. In den letzten Wochen kam es zu zahlreichen Festnahmen, Hausdurchsuchungen und Verboten kritischer Inhalte. Die wichtige unabhängige Onlinezeitung »Meduza« wurde zum »ausländischen Agenten« erklärt. In Zukunft muss jede Veröffentlichung des Mediums mit einem Warnhinweis versehen werden, und durch den Verlust an Werbepartnern ist ein großer Teil der Einnahmen weggebrochen. Auch Filmvorführungen und sogar Anime-Serien sind von den aktuellen Repressionen betroffen, wie das unabhängige Nachrichtenportal »Mediazona« berichtete.
Es finden weiterhin Demonstrationen und Kundgebungen für die Freilassung Alexej Nawalnys statt, bei denen regelmäßig Hunderte festgenommen werden, wie zuletzt am 21. April. Andrej Borowikow, ein Mitstreiter Nawalnys, wurde vor Kurzem zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Die politische Motivation des Urteils ist nicht schwer auszumachen: Die Anklage behauptet »Verbreitung von Pornografie« - weil Borowikow 2014 ein Musikvideo der Band Rammstein in den sozialen Medien geteilt hatte.
Solche Repressionen seien »ein Versuch, uns zu unterdrücken und uns zu drohen, damit wir Angst haben«, sagt Ekaterina Moroko. Die Regierung fürchte neue Proteste, auch von Studierenden. Die Verhaftung der »Doxa«-Redakteur*innen könnte einen doppelten Zweck verfolgen: »Ich glaube, es ist einerseits ein Signal für unabhängige Medien und andererseits eines für Studenten, die vorhaben könnten, auf die Straße zu gehen.«
Moroko sagt, dass es sie genauso hätte treffen können wie ihre Kolleg*innen. Die Redaktion besteht aus etwa 30 Mitarbeit*innen, die sich um Texte, Videos, Layout und Social Media kümmern. »Es ist eigentlich ein Zufall, dass ausgerechnet diese vier Leute im Video waren. Denn wir denken alle ähnlich und haben die gleiche politische Ausrichtung. Es hätte jeder von uns sein können.«
Ins Bockshorn jagen lassen will sich die junge Journalistin aber nicht, sie ist vor allem wütend und will ihre Kolleg*innen unterstützen. »Ich habe keine Angst mehr, weil ich verstanden habe, dass meine Kollegen alles tun würden, um mich zu befreien, um mich zu schützen, genau wie wir es jetzt für die anderen tun.« Solidarität ist jetzt am wichtigsten. Deshalb kooperiert »Doxa« mit »Meduza« und anderen bedrohten Medien.
Gemeinsam bereiten sie gerade einen Medienstreik vor. Tausende Menschen in Russland und im Ausland haben bereits offene Briefe für die Freilassung der Redakteur*innen unterzeichnet, darunter Slavoj Žižek und Judith Butler. NGOs wie Reporter ohne Grenzen und Amnesty International haben ebenfalls ihre Unterstützung erklärt. So ist die »Doxa«-Redaktion nicht auf sich allein gestellt. »Das hilft uns, weiterzumachen. Es ist wichtig, dass wir nicht nur mit unserer Verfolgung beschäftigt sind, sondern dass wir auch weiterarbeiten können und das machen, was unsere Leser von uns erwarten.« Moroko ist optimistisch, dass ihre verhafteten Kolleg*innen nicht ins Gefängnis müssen, sondern hält eine Geldstrafe für wahrscheinlich. Das Geld will die Redaktion dann mit Crowdfunding zusammenbekommen.
In der Zwischenzeit kann die Redaktion normal arbeiten, da sie ohnehin gemeinsam entscheiden und keine*n Chefredakteur*in haben. »Das ist unsere Stärke in dieser Situation - dass wir horizontal arbeiten und alle ›Chefredakteure‹ sind. Wir machen weiter unsere Texte, Videos und Streams.« Und bei allem Ernst der Lage beweist die Redaktion auch Humor. Auf der »Doxa«-Website kann man sich durch den Psychotest »Welcher von den verhafteten Redakteuren bist du?« klicken. Bei Instagram ist unter der Überschrift »Girls who wear ankle bracelets« neben Fotos von Füßen mit glitzernden Fußkettchen auch ein Foto von der Fußfessel einer der Redakteurinnen im Hausarrest abgebildet.
Aufgeben wird »Doxa« so schnell also nicht. Aber welche Perspektive haben kritische junge Menschen wie die Leser*innen und Macher*innen von »Doxa« überhaupt derzeit in Russland? »Von meinen Freunden planen immer mehr, Russland irgendwie zu verlassen und ein normales Leben in einem normalen Land zu führen. Und ich kann sie verstehen. Ich fühle mich hier nicht ganz wohl. Manchmal habe ich Angst, manchmal bin ich deprimiert.«
Ekaterina Moroko möchte aber trotzdem in Russland, ihrer Heimat, bleiben. Sie betont: »Ich hoffe, dass es ein Ende haben wird, dass es anders sein wird. Ich möchte mithelfen, dieses neue Land, den neuen Lebensstil in diesem Land, aufzubauen. Jetzt gerade bin ich wütend, aber ich sehe auch so viele kluge, ehrliche, einfach tolle Leute in Russland. Ich glaube, alle zusammen können wir diese politische Lage verändern. Eines Tages wird Russland demokratisch und frei werden. Und ich möchte dazu beitragen.« Und sie ergänzt schmunzelnd: »Vielleicht ist es ein bisschen naiv, aber ich glaube nicht, dass Mister Putin 100 Jahre alt werden wird.«
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