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Knifflige Abwägung der Risiken
Covid-Impfstoffe für unter 16-Jährige dürften schon bald bereitstehen. Doch wie groß ist ihr Nutzen?
Die Impfkampagne in Deutschland hat Fahrt aufgenommen. Knapp jeder dritte Bürger hat inzwischen die erste Dosis erhalten. Aktuell ist die dritte Prioritätengruppe dran. Zu dieser zählen die 60- bis unter 70-Jährigen, zu denen laut Statistischem Bundesamt etwa 10,5 Millionen Menschen zu zählen sind.
Hingegen stehen Kinder bislang auf keiner Liste. Der Grund: Die in der EU zugelassenen Impfstoffe dürfen erst ab 16 Jahren verabreicht werden. Das hat einen einfachen Grund: Zulassungen beruhen auf den Ergebnissen mehrstufiger klinischer Studien. Da bei den ersten Tests die Nebenwirkungen noch kaum bekannt sind, wird nicht an Kindern getestet. Nicht auszudenken, wenn einige dabei schwer erkranken oder gar sterben. Zudem unterliegen Kinder besonderen Schutzbestimmungen. Und Studienergebnisse können nicht einfach auf Kinder übertragen werden, deren Immunsystem ja noch anders reagiert als das von Erwachsenen.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Mittlerweile gibt es aber bessere Erkenntnisse über mögliche Nebenwirkungen der Covid-19-Vakzine, da sie bereits millionenfach verimpft wurden. Auch das mögliche Risiko für etwas ältere Kinder lässt sich dadurch besser einschätzen. Daher haben praktisch alle Hersteller Studien begonnen. Diese sind etwas einfacher, da es bei Kindern wohl nur um die Frage der richtigen Dosierung geht. Und wieder haben Biontech/Pfizer die Nase vorn: In den USA steht die Notfallzulassung unmittelbar bevor. In der EU wurde sie vor einigen Tagen beantragt; im Juni bereits könnte die Entscheidung fallen. Der Impfstoff ist nur eine Modifikation des bereits zugelassenen, so dass die Verfahren schnell gehen. Biontech führt ebenfalls eine Studie mit Kindern zwischen sechs Monaten und elf Jahren durch.
Wenn die Zulassung kommt, könnten laut Statistischem Bundesamt hierzulande knapp drei Millionen 12- bis unter 16-Jährige zusätzlich geimpft werden. Bislang ist das wegen der bestehenden Priorisierungsregeln eine ferne Perspektive, aber das könnte sich ändern: Da die am stärksten gefährdete Gruppe der ganz Alten mittlerweile weitgehend geimpft ist, Todeszahlen und Inzidenzwerte stark gesunken sind, wird vermehrt darüber diskutiert, ob weitere Gruppen Impfangebote erhalten sollen. Darunter fallen auch Kinder, die bei geöffneten Schulen einem besonderen Infektionsrisiko ausgesetzt sind. Vergangene Woche forderte der Deutsche Ärztetag in einem Beschluss die Bundesregierung auf, unverzüglich eine Impfstrategie für Kinder und Jugendliche zu entwickeln.
Cornelia Betsch, Professorin für Gesundheitskommunikation an der Universität Erfurt, empfiehlt, zeitnah auch an Schulen zu impfen. »So können große Gruppen mit vielen Kontakten erreicht werden, und der Aufwand, an eine Impfung zu kommen, wird reduziert«, erklärt sie. Um eine Herdenimmunität in der Bevölkerung zu erreichen, sei es unausweichlich, auch viele Kinder zu impfen.
Der Ansatz verfolgt vor allem das Ziel, dass, wenn man viele Kinder impft, die Gesellschaft insgesamt geschützt wird. Inzwischen geht es weniger um Oma und Opa als um nicht geimpfte Eltern von Schul- oder Kitakindern, die sich verständliche Sorgen machen, dass die Kleinen das nach wie vor gefährliche Virus mit nach Hause bringen.
In der Debatte um Impfungen von Kindern wird dies häufig als Argument angeführt, doch es gibt auch Einwände: Bei der Notfallzulassung von Vakzinen dürfen solche gesamtgesellschaftlichen Überlegungen nicht im Vordergrund stehen. Dabei muss der Nutzen für die geimpften Kinder die Risiken »klar überwiegen«. Und das ist anders als bei Erwachsenen nicht trivial: »Kinder werden definitiv nur selten schwer krank«, sagt der Virologe Alexander Kekulé von der Universität Halle-Wittenberg. Der Großteil der positiv getesteten Kinder hat sogar keine Symptome. Impfnebenwirkungen könnten mehr ins Gewicht fallen. Astra-Zeneca und die Universität Oxford haben ihre Studie mit Kindern von 6 bis 17 Jahren im April unterbrochen, bis die aufgetretenen Thrombosefälle bei jüngeren Frauen genauer untersucht sind. Das Problem bei seltenen Nebenwirkungen ist, dass diese bei Studien mit Kindern vermutlich gar nicht auffallen, da die Anzahl der Probanden extrem niedrig gehalten wird. Bei den völlig neuen mRNA-Impfstoffen ist zudem zu bedenken, dass es überhaupt keine Erkenntnisse über mögliche Langzeitfolgen gibt.
Wenn es um die Abwägung von Nutzen und Risiken geht, führen indes vor allem Kinderärzte an, dass auch bei den Kleinen schwere Verläufe auftreten können. In Deutschland wurden bisher etwa 300 Fälle des PIMS-Syndroms beobachtet, einer zeitlich verzögert auftretenden Entzündungsreaktion des Immunsystems, die sich wie ein Lauffeuer im Körper ausbreitet und alle Organe befällt. PIMS kann lebensbedrohlich sein, ist aber mit Medikamenten behandelbar. Auch langfristige Covid-Beschwerden sind bei Kindern und Jugendlichen schon aufgetreten.
Die Debatte über Impfungen bei den Kleinen ist also durchaus komplex. Es bleibt auch Zeit, sie zu führen. Bund und Länder haben gerade erst beschlossen, dass die 12- bis 16-Jährigen erst bis zum Ende der Sommerferien ein Impfangebot bekommen werden; sehr zum Ärger der reisewilligen Familien. Für die ganz Kleinen wird es noch länger dauern: Frühestens ab September dürften hier die ersten Impfstoffe zur Zulassung bereitstehen.
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