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Istanbul-Konvention: Ein fast revolutionäres Instrument
Jessica Mosbahi von medica mondiale über das zehnjährige Bestehen der Istanbul-Konvention
Am 11. Mai 2011 wurde erstmals die vom Europarat erarbeitete Istanbul-Konvention unterzeichnet: ein Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Was hat sich seitdem getan?
Insgesamt sind zehn Jahre Istanbul-Konvention auf jeden Fall ein Grund zum Feiern. Was wir uns vor Augen führen müssen, ist, dass wir mit dieser Konvention das umfassendste Dokument in Europa haben zum Schutz von Frauen vor Gewalt und zur Unterstützung von Frauen, die Gewalt erlebt haben. Und immerhin haben 33 Länder die Konvention ratifiziert. Zwölf weitere haben sie unterzeichnet und sind damit zur Umsetzung verpflichtet.
Nach der Ratifizierung der Konvention haben viele Länder Gewaltschutzgesetze erlassen. Allerdings hapert es bei der Umsetzung solcher Gesetze – und zwar in ganz Europa. Die Bundesregierung hat die Istanbul-Konvention beschämend spät, im Jahr 2017, ratifiziert und dadurch wertvolle Zeit im Kampf gegen Gewalt gegen Frauen verloren.
In Kraft getreten ist sie dann im Februar 2018. Was hat sich an Strukturen verändert?
Auf der strukturellen Ebene hat sich tatsächlich nicht so viel verändert. Das sehen wir von medica mondiale auch als das größte Problem an. Die Istanbul-Konvention verlangt, dass es einen umfassenden, ganzheitlichen Maßnahmenplan gibt. Dieser sollte sich auf Gewaltprävention fokussieren, gleichzeitig aber auch ein umfassendes Hilfesystem für gewaltbetroffene Frauen schaffen und die Strafverfolgung voranbringen. Gefragt ist also eine kohärente Politik. Es ist wichtig, dass nicht das eine Ministerium wirksame Maßnahmen erlässt, die dann das andere Ministerium wieder aushebelt: Wenn Maßnahmen zum Schutz von Frauen vor Gewalt oder zur Unterstützung von Betroffenen ins Leben gerufen werden, die dann aber nicht zugänglich sind für geflüchtete Frauen in Geflüchteten-Unterkünften, dann ist das ein Beispiel dafür, wie kohärente Politik nicht funktioniert.
In Deutschland gibt es viele Einzelmaßnahmen: Das Hilfetelefon, das vom Bundesfamilienministerium immer als gelungene Unterstützungsmaßnahmen genannt wird, ist sicherlich ein sehr gutes Instrument, reicht aber natürlich nicht aus. Wir haben in Deutschland immer noch einen riesigen Mangel an Frauenhausplätzen. Die Istanbul-Konvention gibt eigentlich einen Platz pro 100.000 Einwohner*innen vor. Nach dieser Rechnung haben wir einen Mangel von ungefähr 15.000 Plätzen.
Was sind Forderungen an die Bundesregierung?
Wir halten es für eine ganz wesentliche Forderung, die Ursachen geschlechtsspezifischer Gewalt zu untersuchen und dann auf der Grundlage dieser Ergebnisse Präventionsmaßnahmen zu entwickeln. Wir bei medica mondiale halten die Istanbul-Konvention für ein extrem starkes, ich würde sagen fast revolutionäres Instrument, weil in der Präambel geschrieben steht, dass ungleiche Machtverhältnisse zwischen Frauen und Männern sowie tradierte Rollenzuschreibungen und Geschlechterverständnisse Gründe für die weit verbreitete Gewalt sind. Und, dass Gewalt tatsächlich ein soziales Instrument ist, um diese Machtungleichheit weiter zu verfestigen, beziehungsweise Frauen in einer untergeordneten Position zu halten. Die Konvention ist genau deshalb so stark, weil sie das einzige Instrument ist, das die Ursache so klar auf den Punkt bringt. Dadurch werden die Bundesregierung, aber auch alle anderen Vertragsstaaten dazu aufgefordert, genau diese Ursachen zu bekämpfen.
Gerade jetzt während der Pandemie, wo angenommen wird, dass häusliche Gewalt zunimmt, kann es wichtig sein, die Ursachen für Gewalt gegen Frauen klar zu benennen.
Wir finden das hochproblematisch, dass die Debatte um den Anstieg von Gewalt gegen Frauen während der Pandemie so verkürzt dargestellt wird. Die Umstände haben sich verschärft, aber sie sind nicht der Grund dafür, dass Gewalt ausgeübt wird. Das würde ja im Rückschluss bedeuten, dass die Pandemie eine Rechtfertigung für die Ausübung von Gewalt ist. Aber Gewalt ist natürlich kein Mittel, auch nicht in einer Pandemie. Der Grund dafür, dass Frauen geschlagen werden oder sonstige Gewalt erleben, muss in der Situation von Frauen in der Gesellschaft gesucht werden. Frauen befinden sich oft in prekären Einkommenssituationen und sind wirtschaftlich abhängig von ihren Partnern, was eine große Hürde für eine Trennung ist. Sie haben kaum Perspektiven, nach der Trennung eine Wohnung für sich und ihre Kinder zu finden. Sie sind auch extrem gefährdet, nach einer Trennung von ihrem Ex-Partner getötet zu werden. Wir hatten schon vor der Pandemie ein enorm hohes Maß an Gewalt im sozialen Umfeld.
Was bedeutet es, wenn Länder wie die Türkei aus der Konvention austreten?
Das ist ein fatales Signal. In der Türkei wurden im letzten Jahr 300 Frauen getötet. Nach dem Austritt, den Erdoğan per Dekret verkündet hat, sind am nächsten Tag vier Frauen ermordet worden. In einem Land, in dem es eine hohe Zahl an geschlechtsspezifischer Gewalt und Femiziden gibt, hat das schon eine Signalwirkung, wenn der Präsident sagt, wir brauchen so ein Instrument, das den Schutz von Frauen und ihre Menschenrechte stärken soll, nicht. Und es bedeutet, dass ein relevantes Rechtsmittel für Frauen nun nicht mehr existiert. Die Türkei sagt zwar, es gäbe andere rechtliche Maßnahmen, aber es fällt ein sehr starker Rechtsrahmen weg.
Ist mit weiteren Austritten europäischer Länder zu rechnen?
Polen diskutiert ganz offen über einen Austritt. Unter dem Motto »Familie ja, Gender nein« gab es vor kurzem die erste Lesung über ein Volksbegehren, das Unterschriften gegen die Istanbul-Konvention gesammelt hat. Es wird gesagt, in der Istanbul-Konvention sei eine »Gender-Ideologie« verankert und sie würde den Schutz der Familie gefährden. Diese Argumentation wird grundsätzlich von Ländern angeführt, die an sehr traditionellen Rollenbildern festhalten wollen. Man kann erkennen, dass die Istanbul-Konvention tatsächlich den Ländern Angst macht, die an Geschlechterstereotypen festhalten wollen. Das zeigt die Stärke der Konvention. Aber gleichzeitig ist es jetzt umso wichtiger, dass auch die Bundesregierung und alle anderen europäischen Staaten, denen es mit den Frauenrechten wirklich ernst ist, dementsprechend voranschreiten und ein Signal in die andere Richtung senden: nämlich die Konvention umso konsequenter und schneller im eigenen Land umzusetzen.
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