- Kultur
- Theatertreffen in Berlin
»Es geht um mich!«
Christopher Rüpings Inszenierung von »Einfach das Ende der Welt« eröffnet das Berliner Theatertreffen
Die Politik hat in den letzten Jahren eine neue Schere entdeckt. Es ist nicht die alte, von ständiger Benutzung in Talkshows schon ganz stumpfe Schere zwischen Arm und Reich. Es ist die zwischen urbanem Raum und der Provinz. Auf der einen Seite die neue Mittelklasse: junge, liberale Radfahrer, fortschrittliche Gewinner der Globalisierung in überteuertem Wohnraum. Auf der anderen Seite: eher konservative Autofahrer ohne Universitätszeugnis, Glasfaseranschluss und ausreichende Versorgung mit Ärzten und Kulturgütern. Die Grenze verläuft nicht selten durch die eigene Familie, wenn nur die Kinder oder einige von ihnen zum Studium in die Stadt ziehen. Hieraus kann ein Einzelgängertum in der eigenen Familie entstehen. Das ist ein - vor allem in Frankreich - beliebtes literarisches Sujet. Didier Eribon (»Rückkehr nach Reims«) und Édouard Louis (»Wer hat meinen Vater umgebracht?«) kehrten als Intellektuelle in ihre Heimatprovinzen zurück und versahen die soziologische Analyse ihrer Herkunftsmilieus, literarisch verarbeitet, mit politischen Anklagen.
Auch Jean-Luc Lagarces Stück »Einfach das Ende der Welt«, 1999 in Paris uraufgeführt, das am Donnerstagabend in Christopher Rüpings Inszenierung vom Schauspielhaus Zürich das digitale Berliner Theatertreffen eröffnet, stellt eine schwierige Familienaufstellung dar. Vor zwölf Jahren hat der schwule Louis seine Familie verlassen und ist seitdem nicht zurückgekehrt. Er hat die kleinbürgerliche Enge seither nicht vermisst, längst ist er ein erfolgreicher Künstler und bewohnt eine teure Wohnung in der Stadt. Nun kehrt er aber doch erstmals zurück, um seiner Familie zu sagen, dass er krank ist und bald sterben wird. Im Originalstück kommt es dazu nicht, die Familie lässt ihn nicht zu Wort kommen, geschlagen verlässt er die verlorene Heimat wieder. In Rüpings Inszenierung hingegen erweist sich der arme Todkranke recht schnell als Narzisst, der sich in erster Linie einen dramatischen Abgang erhofft. Er will im Mittelpunkt stehen, wollte es vielleicht schon vor seiner Flucht, aber erst jetzt - mit seiner Diagnose - kann er sich der vollen Aufmerksamkeit sicher sein.
Vor der Pause filmt Benjamin Lillie in der Rolle der Hauptfigur den Nachbau einer spießigen Wohnung ab, hält mit gewissem Stolz in den Augen die Kühlschrankmagneten, den billigen Schmuck und die am Strand gesammelten Muscheln in die Kamera, als wollte er sagen: »Kaum vorstellbar, dass ich diesen Verhältnissen entstamme, oder?« Nach der Pause, das Bühnenbild ist mittlerweile abgeräumt, reagiert er immer frustrierter auf die Abgeklärtheit der Familie. Denn die ist gar nicht empfänglich für seine Geltungssucht. Die Mutter (Ulrike Krumbiegel) möchte nur nicht, dass der Rest der Familie so unglücklich wird wie er; die Schwester (Wiebke Mollenhauer) bewundert ihn erst, hat bald aber höchstens noch Mitleid für ihn übrig; sein Bruder (Nils Kahnwald) ist sauer, weil er damals einfach abgehauen ist, vor allem aber, weil er sich jetzt wieder in das Leben der Familie drängt. »Es geht um mich!«, brüllt der Rückkehrer wie ein zu kurz gekommener Junge. Aber selbst sein baldiger Tod bringt ihm nichts ein in dieser Gesellschaft. Die Provinzler, diese vermeintlich Abgehängten und Ungebildeten, sehen es gar nicht ein, nun alles zu vergeben und zu vergessen.
Rüpings Lesart des Stücks ist weniger psychologisch denn politisch motiviert. Er legt den Fokus auf die Arroganz einer kosmopolitischen Elite, die lieber von der kulturellen oder politischen Primitivität anderer spricht, als über die eigenen Verfehlungen nachzudenken. Diese kluge Wendung wird allerdings recht schnell deutlich, so wie Lillies Protagonist von Beginn an nicht sympathisch genug erscheint, um den Kippmoment der Geschichte effizient ausspielen zu können. Die Inszenierung bleibt trotzdem solides politisches Theater, die Einladung zum Berliner Theatertreffen wäre jedoch in einem normalen Jahr nicht unbedingt zu erwarten gewesen.
Für gewöhnlich bereist eine Jury aus sieben Kritiker*innen den deutschsprachigen Raum, in diesem Jahr blieben die Theater die längste Zeit dicht. Was überhaupt auf die Bühne kam, wurde zum größten Teil für die Kamera aufgeführt. Die Auswahl von zehn Inszenierungen, die bis zum 24. Mai auf der Seite der Berliner Festspiele kostenlos gestreamt werden können, weist aber dennoch gewohnte Gewichtungen auf. Die Theatermetropolen Hamburg und München sind vertreten, Zürich und Berlin sogar mehrfach. Das Wiener Burgtheater und das Theater Basel halten mit Anna Gmeyners »Automatenbüfett« beziehungsweise Max Frischs »Graf Öderland« das Literaturtheater hoch, mit Sebastian Hartmann ist ein Regieberserker alter Schule dabei und mit Leonie Böhm eine der derzeit am höchsten gehandelten Regisseurinnen der jüngeren Generation. Auch die freie Szene darf nicht fehlen, unter anderem freut sich die altgediente Gruppe Gob Squad über die Einladung aufs digitale Festivalgelände. Die Frauenquote, mindestens fünf Arbeiten müssen von Regisseurinnen oder divers besetzten Teams inszeniert worden sein, ist übererfüllt, die Kritik an ihr hat mittlerweile ein wenig an Kraft verloren.
Gerahmt werden die Aufführungen von einem Diskursprogramm, mit dem sich das Theatertreffen auch in diesem Jahr weit weniger als Publikumsfestival denn als Branchentreff inszeniert. Themen wie Geschlechtergerechtigkeit, Diversität und Digitalisierung dürften, das legen Titel und Besetzungen der Diskussionen und Vorträge nahe, überwiegend aufs Theater selbst bezogen sein - aus nachvollziehbaren Gründen, denn das Stadttheater steckt tief in der Krise. Corona hat die medial und technologisch eher konservativen Bühnen ins Internet getrieben, wo sie sich - oft mit übersichtlichem Erfolg - an der Imitation von Netzkunst, Kino oder Videospielen versuchen. Allerorten wanken derweil Intendanten, zuletzt gerieten Wilfried Schulz in Düsseldorf und Shermin Langhoff am Berliner Maxim-Gorki-Theater wegen Vorwürfen aus der Belegschaft in Bedrängnis. Die Theaterkunst ist zutiefst mit sich selbst befasst, womöglich zeichnet sich ihre Krise aber genau dadurch aus: dass sie so selten dazu kommt, über den eigenen Bühnenrand zu blicken.
Livestream am 13.5.
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