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Mit der Netto-Null in die Falle

Klimaforscher Wolfgang Knorr über riesige CO2-Senken auf dem Papier und nicht existierende Technologien

  • Guido Speckmann
  • Lesedauer: 5 Min.

Herr Knorr, in einem mit Ihren Kollegen James Dyke und Robert Watson verfassten Beitrag bezeichnen Sie Klimaneutralität als »gefährliche Falle«. Greta Thunberg schrieb, das sei einer der wichtigsten und informativsten Texte, die sie je zum Thema Klima- und ökologische Krise gelesen habe. Überrascht Sie das?
Dass Greta Thunberg so enthusiastisch reagieren würde, das hatte ich mir nicht träumen lassen. Aber dass der Artikel bei denen, die sich seit Jahren mit dem Thema befassen, einen Nerv treffen würde, damit habe ich tatsächlich gerechnet.

Der Begriff Klimaneutralität ist allgegenwärtig. Was meint er überhaupt?
Schon 2009 veröffentlichte ich mit englischen Kollegen einen Artikel, der als einer der ersten klarstellte: Um das Klima zu stabilisieren, müssen wir die am Ende aller unserer Bemühungen noch verbleibenden CO2-Quellen durch »künstliche Senken« ausgleichen. In der Natur ist es auch so - CO2 wird durch die Atmung der Tiere, Pflanzen und Bodenorganismen ausgeschieden und durch Photosynthese vollständig wieder aufgenommen.

Wolfgang Knorr

Wolfgang Knorr ist Klimaforscher an der Universität Lund in Schweden. Mit ihm sprach Guido Speckmann.

Sie kritisieren jetzt aber die Klimaneutralität als Blankoscheck für die weitere Verbrennung fossiler Brennstoffe und die Beschleunigung der Lebensraumzerstörung. Warum?
In der Zwischenzeit hat der Weltklimarat IPCC Szenarien entwickelt, in denen diese künstliche Senke fantastische Ausmaße angenommen hat. Man kommt sich vor wie in einem Science-Fiction-Roman. Da sind jetzt zwei ganz unterschiedliche Begriffe von Klimaneutralität auf dem Tisch: begrenzte Senken und die sogenannte Netto-Null.

Was ist das Problem bei dieser?
Wie gesagt, Netto-Null ist eigentlich notwendig, wenn man den Begriff rein wissenschaftlich nimmt. Er ist aber auch in seiner mathematischen Einfachheit irreführend. Eins minus eins ist Null, aber auch eine Million minus eine Million. Es muss nur das gleiche, was abgegeben wird, wieder aufgenommen und gespeichert werden. In der Realität aber bedeutet eine Million minus eine Million die Lizenz, mit kleinen Einschränkungen weiter CO2 zu erzeugen und eine gigantische Senke mit noch nicht existierenden Technologien auf dem Papier zu erschaffen.

Was sind das für Technologien?
Die am meisten diskutierte und wirtschaftlichste Möglichkeit, solche Senken zu schaffen, nennt sich BECCS: Bioenergie mit Kohlenstoff-Abscheidung und Speicherung. Die vom IPCC als notwendig projizierten Senken würden einen Großteil der weltweit landwirtschaftlich genutzten Fläche benötigen. Das würde zu Hunger, zerstörten Lebensräumen für Pflanzen und Tiere sowie zu Wasserknappheit planetarischen Ausmaßes führen. Machen wir es aber nicht, so verfehlen wir sicher unsere Klimaziele. Womit ich eigentlich rechne, ist ein halbherziger Versuch, der weder dem Klima noch den Menschen oder der Artenvielfalt zugutekommt. Die EU hat jetzt schon ein Abholzungsproblem, ohne dass BECCS überhaupt angefangen hat.

Sie schreiben, dass sich Wissenschaftler im Privaten durchaus skeptisch gegenüber BECCS, Kompensationen, Geoengineering und der Netto-Null äußern. Wieso nur im Privaten?
Es gibt einen enormen Druck auf Wissenschaftler, nicht zu negativ zu klingen. Viele Kollegen haben Angst, den Bürgern reinen Wein einzuschenken. Diese Selbstzensur führt aber leider dazu, dass nur über technokratische und nie über gesellschaftliche Lösungswege diskutiert wird, was den Wirtschaftsinteressen sehr zugutekommt.

Ihr Papier wird derzeit breit diskutiert. Wie sind die Reaktionen?
Meine Beobachtung ist, dass die meisten Wissenschaftler, die nicht politisch engagiert sind, uns enthusiastisch zustimmen. Und dann gibt es immer wieder defensive Reaktionen, aus denen so unterschwellig ein Vorwurf herauszuhören ist: Klimaneutralität ist doch wissenschaftlich richtig und notwendig. Netto-Null eine Falle, wirklich? Meine Antwort darauf ist: Die besten Fallen sind die, bei denen man meint, es sei notwenig, in sie reinzulaufen.

Der Klimawissenschaftler Stephen Smith hat sich angesehen, ob die verschiedenen Staaten, die eine Klimaneutralität bis 2050 anstreben, tatsächlich bei den kurzfristigen Klimaschutzanstrengungen nachlassen. Er meint nein. Was entgegnen Sie dem?
Einmal angenommen, wir würden das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens ernst nehmen. Dann müssten wir die weltweite Reduktion des CO2-Ausstoßes, wie sie während der Corona-Pandemie erreicht wurde, dieses Jahr wiederholen. Wir würden jetzt und heute unmittelbar über das Verbot von Privatautos oder innereuropäischer Flüge reden. Es handelt sich schließlich, angeblich, um einen Notstand. In Wirklichkeit prognostiziert aber die Internationale Energieagentur für 2021 einen Rekordanstieg. Zwischen den kurzfristigen Klimazielen im Rahmen des Pariser Abkommens, von denen Stephen Smith spricht, und dem 1,5-Grad-Ziel liegen Welten. Die kurzfristigen Ziele tun niemandem weh und sie werden auch nicht unbedingt eingehalten. Deutschland hat sein letztes selbst gestecktes Ziel nur wegen der Pandemie erreicht! Deswegen redet auch niemand davon und alle nur von Netto-Null in der fernen Zukunft. Damit sollte klar sein, dass das, was mein Kollege da gefunden hat, genau meine These bestätigt: dass es nur um den Schein geht. Der Schein der Klimaneutralität wird einfach durch höhergesteckte kurzfristige nationale Klimaschutzziele verstärkt. Das kostet politisch gar nichts.

Was wäre denn eine Alternative zur Falle der Netto-Null?
Wir sind schon ziemlich weit hineingetappt in die Falle. Die Frage muss aber auf den Tisch: Welche Zukunft wollen wir eigentlich? Riskieren wir die Klimakatastrophe und machen wir so weiter wie bis jetzt mit ein paar Änderungen hier und dort wie zum Beispiel Ausbau von Solar- und Windenergie, Umstellung auf Elektromobilität und so weiter? Oder rationieren wir radikal das Recht, fossile Brennstoffe zu fördern und zu nutzen, auf eine demokratische und gerechte Weise? Diese Entscheidung können nur die Bürger dieser Erde selbst treffen, vor allem unter Mitwirkung der jüngeren Generation. Instrumente wie die französische »Convention Citoyenne« (Bürgerrat über das Klima) weisen da den Weg.

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