Das Asylrecht kennt keine Behinderung

Karsten Dietze fordert ein Recht auf Teilhabe und mehr Schnittstellen zwischen Asyl- und Behindertenrecht

  • Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 4 Min.

Schätzungsweise 10 bis 15 Prozent aller Geflüchteten haben eine Behinderung. Welche besonderen Bedürfnisse ergeben sich daraus?

Das ist ganz unterschiedlich und hängt von der Art der Beeinträchtigung ab. Allgemein kann man sagen, dass es für geflüchtete Menschen mit Behinderung wichtig ist, dass der Zugang zu Teilhabe- und Gesundheitsleistungen gewährt wird und ihre Bedürfnisse im Asylverfahren mitgedacht werden.

Interview
Karsten Dietze ist Referent für das Modellprojekt »Crossroads – Flucht. Migration. Behinderung« bei Handicap International. Ziel des Projektes ist es, dass der spezifische Bedarf Geflüchteter mit Behinderung systematisch berücksichtigt wird. Ulrike Wagener sprach mit ihm über Sammelunterkünfte, das Bundesteilhabegesetz und die besonderen Bedürfnisse von Geflüchteten mit Behinderung im Asylverfahren. 

Die Unterbringung für Geflüchtete an den europäischen Außengrenzen ist katastrophal. Für Menschen mit besonderen Bedürfnissen sind die sanitären Anlagen teils nicht benutzbar, das Gelände schwer passierbar. Wie sieht es in Deutschland aus?

Das ist von Unterkunft zu Unterkunft verschieden. Prinzipiell ist das System von Sammelunterkünften für Menschen mit Behinderung ungeeignet. Viele Erstaufnahmeeinrichtungen sind eher im ländlichen Raum angesiedelt, viele sind nicht barrierefrei. Und mit dem dramatischen Corona-Ausbruchsgeschehen in Unterkünften haben wir gesehen, dass in so einer Notlage der Infektionsschutz oft nicht gewährleistet wird.

Wie müssten Menschen mit Behinderung geschützt werden?

Menschen mit Behinderung gehören zu der Gruppe von Personen, die bei einer Coronaerkrankung unter Umständen einen schweren Krankheitsverlauf zu befürchten haben. Diese Gruppe hätte unbedingt vor möglichen Infektionssituationen geschützt werden müssen. Das heißt möglichst dezentrale Unterbringung, Zugang zu Beratungsangeboten, kein Essen in Gemeinschaftsspeisesälen. Aber auch ohne Corona ist die Situation oft nicht gut, weil Menschen und ihre Bedürfnisse in Sammelunterkünften untergehen. Wir wollen, dass geflüchtete Menschen mit Behinderung, die aus den Erstaufnahmelagern ausziehen möchten, das auch tun können.

Durch das Bundesteilhabegesetz haben Menschen mit Behinderung seit 2020 einen Rechtsanspruch auf Assistenz. Gilt das auch für Geflüchtete?

Der Zugang zu sämtlichen Leistungen der Teilhabe, der Eingliederungshilfe und zu Gesundheitsleistungen ist durch das Asylbewerberleistungsgesetz und das Sozialgesetzbuch IX sehr eingeschränkt. Über all diese Leistungen entscheiden Sachbearbeiter*innen mit einem großen Ermessensspielraum, und das führt dazu, dass diese in der Praxis oft nicht gewährt werden. Wir argumentieren, dass sich ein Großteil der Rechtsansprüche aus höherrangigen Rechten ableitet, zum Beispiel aus der UN-Behindertenrechtskonvention. Die wird aber im Asylkontext nicht mitgedacht.

Wird eine Behinderung im Asylverfahren überhaupt berücksichtigt?

Das hat zwei Ebenen: erstens die Ausgestaltung des Asylverfahrens und zweitens die Frage der Entscheidungsfindung. Im Rahmen der Ausgestaltung wird es wenig berücksichtigt, das hängt damit zusammen, dass es ganz viele strukturelle Lücken gibt. Es gibt zum Beispiel keine systematische Identifizierung von behinderungsspezifischen Schutz- und Unterstützungsbedarfen in der Erstaufnahme in Deutschland.

Und in der Entscheidungsfindung?

Die Behinderung spielt im Kontext von gesundheitlichen Fragen eine Rolle. Aber wir erleben oft, dass sich die Lebenssituation eines Menschen mit Behinderung in seinem Herkunftsland in der Asylentscheidung nicht in seiner Ganzheit widerspiegelt. Ein Beispiel: Vielleicht gibt es die Medikamente, die ein Mensch mit Behinderung braucht in seinem Herkunftsland - aber kann er sie sich dort auch leisten? Oder vielleicht gibt es eine bestimmte Rehaeinrichtung - aber gibt es dort auch Kapazitäten? Die Kategorie Behinderung gibt es in dem Kontext rechtlich nicht. Und das führt zu dramatischen Abschiebesituationen.

Was müsste sich ändern?

Zum einen braucht es mehr Beratungsstellen, die sowohl Kenntnisse von Behindertenrecht als auch vom Asylbewerberleistungs- und Asylrecht haben, und an dieser Schnittstelle beraten. Gleichzeitig wünschen wir uns, dass Einrichtungen der Behindertenhilfe weiterhin Kompetenzen aufbauen im Bereich Migration und anders herum. Politisch wollen wir, dass Menschen mit Behinderung und behinderungspolitische Paradigmen wie Barrierefreiheit, Inklusion und Teilhabe im Asylrecht und Asylbewerberleistungsrecht mitgedacht werden.

Was bedeutet das konkret?

Das würde bedeuten, dass behinderungsspezifische Schutz- und Unterstützungsbedarfe bei der Ankunft gemeinsam mit den Betroffenen identifiziert und mit entsprechenden Maßnahmen adressiert werden. Es braucht Sprachkurse für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung. Es braucht eine Begleitung im Asylverfahren, Sonderbeauftragte für das Thema im Asylverfahren und verlängerte Rechtsmittelfristen. Vor allen Dingen braucht es die Zugänge zu medizinischen Leistungen und Leistungen der Teilhabe. Paragraf 100 im Sozialgesetzbuch IX, der asylsuchende Menschen im ersten Jahr ihres Asylverfahrens pauschal von Leistungen der Teilhabe ausschließt, muss ersatzlos gestrichen werden. Das ist ein Gesetz, das Menschen mit Behinderung massiv diskriminiert.

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