Erinnern als Akt des Widerstands

Natalka Sniadanko spielt in ihrem Roman mit dem Mythos des »Roten Prinzen« Wilhelm von Habsburg

  • Ingo Petz
  • Lesedauer: 5 Min.

Am Ende kehrt der Mythos dorthin zurück, wo er seinen Ursprung hat: nach Wien. In irgendeiner Bar schmücken Comicstrips das Interieur - Comics, die von diesem aberwitzigen, rasanten und abenteuerlustigen Leben erzählen, das sich nicht mal der kühnste Dichter ausdenken könnte.

Es ist deswegen auch kein Wunder, dass es Wilhelm von Habsburg in diesem Roman nicht wirklich gelingt, sein eigenes Leben aufzuschreiben, auch wenn er doch als Dichter bezeichnet wird. Er ist eben ein Dichter des Lebens und nicht etwa ein Dichter des Wortes. So kommt es, dass seine Enkelin Halina zur Erzählerin seines Lebens wird. Und schon in jungen Jahren beginnt sie, Comics zu den Episoden aus dem Leben ihres Großvaters zu zeichnen. Die sind, wie es Comics eigen ist, überzeichnet, sie verzerren und bauschen auf, unterschlagen an mancher Stelle, verdichten oder dichten etwas hinzu, um der Story auf die Sprünge zu helfen.

In dem Roman mit dem sperrigen Titel »Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde« geht es um Mythen, wie sie konstruiert werden, wie sie immer neue Kapriolen schlagen, es geht um Erinnerungsarbeit, vor allem die von Familien, wie Erzählungen über verschlungene Wege Bilder von Leben formen, was etwas von Magie hat.

Natalka Sniadanko, die Urheberin dieses vor Zauberfunken sprühenden Romans, der bereits 2017 in der Ukraine erschien und nun von Maria Weissenböck ins Deutsche übertragen wurde, versinnbildlicht das Kunststück der Erinnerung in einer Passage, in der Halina das Nähtalent ihrer Großmutter Sofia beschreibt: »Der Großmutter ging es tatsächlich weniger um Geld als um diesen flüchtigen Moment der Verwandlung, um die Magie der Kleidung, die an einer Frau grau und uninteressant wirkte und die andere zu einer Schönheit machte. Ihr ging es darum, diese Nuancen einzufangen und ein weiteres Wunder geschehen zu lassen.«

Ein weiteres Wunder dieses Romans ist, dass Sniadanko das Leben des historischen Wilhelm von Habsburg nicht 1948 enden lässt, als er in einem Kiewer Gefängnis der Sowjets an Tuberkulose stirbt, sondern ihn weiterleben lässt und zwar im Lemberg der sowjetischen Ukraine (heute Lviv) - ihn, der als König eines ukrainischen Satellitenstaat nach dem Ersten Weltkrieg gehandelt wurde. Ein Experiment, das scheiterte, weil die Ukraine von Sowjetrussland erobert wurde.

Der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder ist der Biografie von Wilhelm Franz von Habsburg-Lothringen 2009 auf den Grund gegangen. In »Der Rote Prinz«, das übrigens von Sniadanko seinerzeit ins Ukrainische übertragen wurde, offenbart sich der irrlichternde Lebensweg des Sprösslings aus dem Habsburger Haus, der ein Herz für ukrainische Belange entwickelte und von seinen Soldaten deswegen Wasil Wyschywanij genannt wurde, der dazu extravagante Kleidung liebte sowie Männer, der sich für sozialistische Ideen begeisterte und als Agent für Frankreich und Großbritannien fungierte.

Den Mythos von Galizien, das zur Zeit des k.u.k.-Reiches als ein Hort des Multikulturalismus zwischen Juden, Ukrainern und Polen angesehen wurde, erweckt Sniadanko in ihrem Roman zum Leben: mit quirligen Straßenszenen aus Lemberg, den Eigenheiten der transnationalen Küche, dem Leben der huzulischen Bauern in den Karpaten. Gerade die Beschreibungen von Essen, vom Sprachenmischmasch oder von Einrichtungsgegenständen sind bei Sniadanko so etwas wie der Kitt, mit dem sie Mythen nicht nur ausstaffiert, sondern sie zu immer neuen magischen Momenten verbindet.

Für den deutschsprachigen Leser, der sich nur wenig oder gar nicht mit dieser untergegangenen Welt auskennt, dürfte die Lektüre einer Begegnung voller Aha-Effekte gleichen. Wie eine Reise, die zwischen Episoden aus unterschiedlichen Zeiten und Jahren mit unzähligen schillernden Querköpfen und eigensinnigen Persönlichkeiten hin und her mäandert. Eine Reise, die in Teilen auch deutlich ausufert und etwas mehr literarische Spannkraft vertragen hätte, die aber gerade durch das Ineinandergleiten so unterschiedlicher, sogar antagonistischer Lebenswelten, eben, diesen Zauber des Erinnerns beschwört. Dabei nehmen starke und vom Schicksal gebeutelte Frauencharaktere eine besondere Rolle ein: Sie sind diejenigen, die nicht nur den Mythos Galiziens, sondern auch den der Familienerinnerung definieren.

Natalka Sniadanko ist nicht daran gelegen, ein allzu romantisches Bild vom Nebeneinanderleben der unterschiedlichen Kulturen in den Lemberger Straßen zu zeichnen, Konflikte, Reibereien, Stereotype werden immer wieder benannt oder angedeutet, Widersprüche werden beiläufig wie Mahnmale errichtet. Auch aus dem »cultural clash« und dem fiktiven Weiterleben Wilhelms, der aus dieser untergegangenen Welt stammt und sich in einer sowjetisierten Ukraine zurechtfinden muss, ergeben sich mitunter spannende literarische Kniffe. Die Beschreibung des alltäglichen Lebens von Halina und ihrem Mann Hryz in einer spannungsgeladenen und schwierigen Ehe mögen manchmal schmerzlich banal sein, aber genau in dieser Banalität liegt eine weitere literarische Idee der Autorin, nämlich den Wert des Lebens festzuhalten.

Aus ukrainischer Sicht bedeutet dies eine wichtige Metaebene für das Buch: Denn es gibt nur wenige, die Erinnerungen weitertragen konnten, weil Menschen im Chaos von Weltkriegen, Holocaust, stalinistischem Terror und nationalistischen Konflikten ermordet, genau wie Fotos, Tagebücher und andere Erinnerungsstücke verbrannt wurden und verschwanden und sich Leben somit nur noch schwer rekonstruieren lassen. Zudem konnte das Erinnern gefährlich sein, wenn es zu anderen Vorstellungen führte, als es die wechselnden politischen Kräftepropagierten.

In diesem Sinne ist dieser Roman auch ein Akt der Auflehnung - für die Eigenwilligkeit, die das Leben in all seinen Irrungen und Wirrungen so magisch macht, und manchmal so grell wie ein Comic.

Natalka Sniadanko: Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde. A. d. Ukrain. v. Maria Weissenböck, Haymon Verlag, 424 S., geb., 25,90 €.

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