Der Rausch in der Pandemie

MDMA, Alkohol, Tilidin und Essen: Es gibt verschiedene Methoden fürs »High Sein«. Ein Gespräch

  • Lena Fiedler
  • Lesedauer: 6 Min.

Drückt Ihnen der Lockdown auf die Stimmung?
Durchaus. Aber ich erlebe, dass die Pandemie verschiedene Phasen hat. Letztes Jahr hab ich es fast genossen, als ein bisschen weniger los war. Und dann wurde es natürlich wie für viele um mich herum schwieriger. Gerade unsere jungen Mitarbeiter*innen haben schon sehr darunter gelitten, niemanden mehr zu treffen. Die sind in einem Alter, in dem man gerne ausgeht und Gemeinschaft auch über leichte oder schwerere Formen von »Rausch« sucht und das ist in der Pandemie nicht mehr so einfach möglich.

Haben Sie in der Pandemie mehr Drogen genommen?
Gar nicht, aber tatsächlich habe ich selten so unkontrolliert gegessen, wie in diesem Winter. Das, was andere vielleicht mit Alkohol oder dem Konsum von anderen Substanzen bezwecken, habe ich scheinbar mit dem Essen gemacht.

Henrik Jungaberle
Henrik Jungaberle ist Drogen- und Präventionsforscher sowie Mitautor von »High Sein«, einem Aufklärungsbuch über das Drogennehmen. Sein wissenschaftliches Interesse gilt vor allem dem positiven Umgang mit psychoaktiven Substanzen und, wie man diese positive Wirkung stärken und erhalten kann. Mit ihm sprach Lena Fiedler über Rausch zu Hause und digitale Ayahuasca-Therapie.

Ist der Konsum in der Krise gestiegen?
Wenn man sich den Bericht der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht anschaut, gibt es Substanzen, die mehr, und manche, die weniger konsumiert werden. Die wichtigsten, auf die wir schauen müssen, sind Alkohol und Tabak, weil sie am tödlichsten sind. In den Studien, die wir haben, berichten 6,1 Prozent der Befragten, dass sie mehr rauchen und trinken würden. Vor allem fragile Menschen, die sowieso dazu neigen, ihre Befindlichkeiten, ihren Stress und ihre Depressivität mit Substanzkonsum zu regulieren, scheinen jetzt erheblich mehr zu trinken und auch zu rauchen. Viele Menschen mussten ja nicht nur im Homeoffice arbeiten, sondern viele sind auch entlassen worden. Und Arbeitslosigkeit war schon immer ein Grund für mehr Substanzkonsum. Der Konsum illegaler Drogen allerdings ging in den ersten drei Monaten der Pandemie 2021 insgesamt zurück.

Wie erklären Sie sich den Rückgang?
Viele Substanzen wie MDMA werden normalerweise in geselligen Situationen genutzt. Als diese ausblieben, haben viele zunächst nicht mehr die Gelegenheit gehabt, die Substanzen zu erwerben. Aus dem Bericht der Beobachtungsstelle geht hervor, dass sich die Händler dann angepasst haben und die Substanzen über den Briefweg verschickt haben.

Was wird denn vermehrt konsumiert?
Es werden insgesamt mehr Schmerz- und Beruhigungsmittel wie Benzodiazepine oder Tilidin konsumiert. Das sind Substanzen, die oft von Personengruppen gebraucht werden, die ohnehin eine hohe psychische Belastung erleben und behandlungsbedürftig wären. Sie haben Angst davor, allein daheim zu sitzen und nehmen Benzos, um ihre Depressivität zu bewältigen.

Dann gibt es Menschen, die vor der Pandemie ihren Stress damit bekämpft haben, auszugehen und Geselligkeit zu suchen. Partys sind für viele ein Ventil, um Aggressionen und Frust rauszulassen und sexuelle Begegnungen zu suchen. Sie haben jetzt ein massives Problem, weil sie kaum noch Leute treffen können und greifen dann zu Benzos oder anderen Substanzen, um sich zu beruhigen.

Außerdem ist mehr experimenteller Konsum da, also mehr Menschen probieren neue Stoffe aus, dazu zählen besonders Psychedelika wie LSD, Pilze und einige neue psychoaktive Substanzen. Darüber hinaus ist Langeweile für viele ein Stressfaktor. Den gleichen sie aus, in dem sie etwas Neues ausprobieren. Langeweile und Neugier hängen eng miteinander zusammen.

Wäre der Konsum auf Partys sicherer?
Ja, Partys sind für viele sicherer, weil es dort eingespielte Mechanismen der Schadensminimierung gibt, wie zum Beispiel vertraute Personen, die sie beim Konsum beraten und begleiten. Jetzt fällt diese quasi informelle Drogenberatung weg. Eigentlich ist es doch logisch: Der Ort, an dem Menschen konsumieren, ist auch der Ort, an dem man mit ihnen sprechen kann. Die klassische Shutdown-Strategie der Polizei funktioniert nicht. Sie führt nur dazu, dass diese informellen Beratungsstrukturen zusammenbrechen.

Hören manche nach der Pandemie wieder auf zu konsumieren?
Die Beobachtungsstellen gehen davon aus, dass wir die neuen Muster mitnehmen werden. Nach dem Lockdown ist zu erwarten, dass es erst einmal eine Ausgleichsphase gibt, in der mehr gefeiert wird. Danach wird es Menschen geben, die die neuen Drogenkonsummuster mitnehmen. Da sprechen wir vor allem von Stimulanzien wie Benzos, Alkohol, Ketamin und GHB.

Woran liegt es, dass letztes Jahr 13 Prozent mehr Menschen an ihrem Drogenkonsum gestorben sind?
In den ersten Monaten der Pandemie haben viele Sucht- und Beratungsstellen in der EU ihre Programme dichtgemacht. Die sind wegen der Wirtschaftskrise nicht alle wiederhergestellt worden. Menschen, die von einer Suchtberatung oder Sozialarbeit profitiert hätten, sind gestorben. Außerdem haben sich die Drogenbezugswege verändert: Es gibt neue Dealer, die auf der Drogenwelle reiten und durch das Internet neue Märkte erobern. Da werden Stoffe verkauft, die problematischer sind als herkömmliche.

Kann man präventiv dagegen vorgehen?
Für Präventionsprogramme braucht man Geld. Ärmere Länder wie zum Beispiel Rumänien und Bulgarien können das nicht leisten, selbst wenn sie eine gute, moderne Drogenpolitik machen wollten. In Deutschland konnten die wenigen Präventionsprogramme, die es gibt, kaum laufen, in Schulen hat fast nichts stattgefunden. Junge Menschen zwischen 12 und 22 Jahren haben keinen Zugang zu den Bildungsangeboten und müssen ihre Infos dann aus dem Internet beziehen, wo von sehr guter bis sehr schlechter Qualität alles dabei ist. Das ist ein Risikofaktor.

Sie haben 2015 »High Sein« mitveröffentlicht, ein Aufklärungsbuch über Drogen für junge Menschen. Kürzlich erschien eine aktualisierte Version. Was hat sich in den vergangenen sechs Jahren verändert?
Die Bedeutung des Internets für die Beschaffung von Substanzen ist durch Telegram-Gruppen und das Darknet größer geworden. In Europa, vor allem in Großbritannien sieht man, dass die öffentliche Diskussion über psychedelische Therapie bei vielen dazu geführt hat, dass sie versuchen sich selbst zu behandeln. Sie googeln die Substanzen und nehmen sie in ihrer Freizeit.

Wie funktioniert die Selbsttherapie mit psychoaktiven Substanzen in der Krise?
Unter den Menschen, die Psychedelika nehmen, sind bestimmt auch solche, die versuchen, den Sinn dessen, was gerade passiert, besser zu erforschen. Ich gehe aber nicht davon aus, dass das die Mehrzahl ist. Auch Psychedelika können dazu benutzt werden, sich schlicht abzulenken und in das innere Dschungelbuch einzusteigen. Das, was Psychedelika zu einem Therapieinstrument macht, ist die Umgebung, das Setting, die Anwesenheit eines Menschen, der einen durch so eine Erfahrung durchführt. Diese notwendige Begleitung gibt es im Moment nicht.

Und digitale Ayahuasca-Therapien?
In den USA wird Online Trip-Sitting angeboten. Das klingt oberflächlich wie eine gute Geschäftsidee, aber Menschen sind soziale und sinnesorientierte Tiere, die vor allem in Anwesenheit anderer sein möchten. Und ich glaube, die reizarme Flachheit der digitalen Welt führt auch dazu, dass Menschen es schwerer haben, Körpergefühl und Intuition zu entwickeln. Auch Sex über den Monitor macht nicht ganz so viel Spaß, wie bei der Anwesenheit realer Sexualpartner.

Henrik Jungaberle, Jörg Böckem: High Sein. Ein Aufklärungsbuch. Kein & Aber, 320 S., br., 23 €.
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