- Politik
- Folgen der Eskalation in Nahost
Nahostkonflikt schwappt herüber
Während in Gelsenkirchen gegen Antisemitismus demonstriert wurde, kam es bei zahlreichen Demos zu antisemitischen Ausfällen
Die Polizei will an diesem Freitag in Gelsenkirchen nichts anbrennen lassen. Das ist schnell zu spüren. Im Hauptbahnhof wacht die Bundespolizei aufmerksam. Mannschaftswagen fahren durch die Innenstadt. Rund um den Platz der Alten Synagoge ist noch mehr Polizei zu sehen. Die Straßen um den Platz sind abgesperrt, nur wer zur Kundgebung gegen Antisemitismus möchte, wird hier durchgelassen. Am Himmel kreist ein Polizeihubschrauber. Die Kundgebung, die sich gegen die Ereignisse vom Mittwoch richtet, soll nicht gestört werden.
Am Mittwochabend waren etwa 180 Menschen durch die Gelsenkirchener Innenstadt gezogen. Sie schwenkten Palästina- und Türkei-Fahnen und zogen in die Richtung der Synagoge. Dabei riefen sie immer wieder antisemitische Parolen. Auf einem Video ist zu sehen und zu hören, wie sie immer wieder »Scheiß Juden« rufen. Am Mittwoch gelingt es der Polizei nur knapp, kurz vor der Synagoge eine Kette zu bilden und die Demonstranten am Weiterlaufen zu hindern. Trotz der antisemitischen Parolen können die Menschen unbehelligt gehen. Gefahrenabwehr, also der Schutz der Synagoge, sei wichtiger als Strafverfolgung, heißt es später vonseiten der Polizei. Im Nachgang konnte sie bei zwei der Demonstranten feststellen, um wen es sich handelt.
Während die Stimmung am Mittwoch aufgeheizt und wütend war, ist es am Freitag vor der Synagoge ruhig und nachdenklich. Zur Kundgebung der Initiative gegen Antisemitismus Gelsenkirchen, die sich wegen des rechten Anschlags auf die Synagoge in Halle 2019 gegründet hat, ist alles gekommen, was in der Stadt Rang und Namen hat. Funktionäre des FC Schalke 04 sind da, Ex-Bürgermeister Frank Baranowski, Parteienvertreter und Gewerkschafter. Judith Neuwald-Tasbach, die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, bedankt sich dafür, dass 300 Menschen zu der Kundgebung gekommen sind. »Es tut wirklich gut, dass so viele Leute Solidarität mit der Gemeinde zeigen«, sagt sie. In der Gemeinde gäbe es aber auch viele, die nach den antisemitischen Ausschreitungen Angst hätten.
Es ist nicht das erste Mal, dass die Synagoge in Gelsenkirchen Ziel von antisemitischen Angriffen wird. 2014, beim letzten Gaza-Krieg, wurde ein Gullideckel in eine Scheibe des Gotteshauses geworfen. Der Nahostkonflikt sorgt immer wieder für antisemitische Ausschreitungen. Darüber spricht am Freitagabend auch Florian Beer von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). »Islamistischer, israelbezogener Antisemitismus« müsse »klar benannt« werden. Diejenigen, die »in der muslimischen und arabischen Community gegen Antisemitismus eintreten«, müssten gestärkt werden. Beer fordert, dass sich auch im Bildungsbereich viel ändern müsse. In der Schule werde Antisemitismus noch viel zu oft auf den Nationalsozialismus reduziert und damit »historisiert«. Das sei verkehrt. Gerade jetzt könne man sehen, wie aktuell Antisemitismus ist. Dagegen sei ein »breites gesellschaftliches und politisches Engagement« gefordert. Nach weiteren Reden, unter anderem von der Grünen-Bundestagsabgeordneten Irene Mihalic, die einen besseren Schutz für Synagogen fordert, geht die Kundgebung in Gelsenkirchen zu Ende.
Als die Menschen aus der Seitenstraße, in der sich das Gotteshaus befindet, in die Gelsenkirchener Innenstadt strömen, fragt ein junger Mann, der auf dem Heinrich-König-Platz steht, einen anderen, woher die Menschen kommen. Seine Antwort: »Die Schwuchteln haben für Juden protestiert.«
Auch eine Kundgebung der Gruppe »Palästina spricht«, die am Samstag auf dem Kölner Heumarkt abgehalten wird, will keinen Platz für Antisemitismus dulden. Sie wird ihr Ziel nicht einhalten und die Kontrolle über die Kundgebung verlieren. Schon seit Wochen hat die Gruppe, genau wie Initiativen in vielen anderen Städten, für diesen Samstag zu Protesten aufgerufen. Es geht um das Jahr 1948 und die Staatsgründung Israels. Im Zuge des Unabhängigkeitskriegs, bei dem Israel von seinen arabischen Nachbarstaaten angegriffen wurde, mussten viele Araber fliehen oder sie wurden vertrieben. Palästinenser nennen das bis heute »Nakba«, die Katastrophe. Die Kölner Kundgebung soll internationalistisch sein, sich mit dem »weltweiten Kampf unterdrückter Menschen« solidarisieren, für ein Leben ohne »Ausbeutung und Patriarchat« einstehen.
Schon vor der Kundgebung sind zahlreiche Menschen zu sehen, denen es nicht um Palästina geht. Sie tragen Fahnen der Türkei oder Syriens. Auch Symbole der türkischen Faschisten sind als Halsketten oder T-Shirts zu sehen. Für die Inhalte der Kundgebung interessieren sich nur wenige der 800 Teilnehmer. Sie bilden große Kreise. Menschen klettern auf die Schultern von anderen. Gegenseitig feuern sie sich an. »Allahu akbar« (Gott ist am größten) ist genauso zu hören wie »Kindermörder Israel«. Auf Schildern wird nicht nur ein freies Palästina gefordert, die Situation der Palästinenser wird auch mit dem Holocaust gleichgesetzt. Am Rande des Platzes versucht ein Demonstrant, eine Israel-Fahne zu verbrennen. Nach knapp einer Stunde wird die Kundgebung aufgelöst. Die Corona-Abstände konnten nicht eingehalten werden. Die Polizei räumt den Heumarkt. Dabei kommt es immer wieder zu Schubsereien zwischen Demoteilnehmern und Polizisten. Im Vorfeld der Demo hatte die Synagogen-Gemeinde Köln ihre Mitglieder aufgefordert, den Heumarkt und Umgebung zu meiden.
Während in Köln größere Zusammenstöße ausbleiben, geht es in Berlin rund. Zwei Demonstrationen finden hier am Samstag statt. Eine von »Palästina spricht«, an der 2500 Menschen teilnehmen. Die Polizei meldet, dass sie ruhig verlaufen sei. Nach Informationen des »Tagesspiegels« wurde am Rand der Demonstration allerdings eine Person angegriffen, weil sie eine Kette mit einem Davidstern trug. Eine zweite Demonstration mit 3500 Teilnehmern eskaliert in der Sonnenallee in Berlin-Neukölln. Auch hier sind es die nicht eingehaltenen Mindestabstände, die zur Auflösung der Veranstaltung führen. Als die Polizei die Auflösung durchsetzen will, fliegen Steine, Flaschen und Feuerwerkskörper auf die Einsatzkräfte. Eine Reporterin des israelischen Senders »Kan« wird ebenfalls mit einem Böller beworfen. Mehrere Journalisten berichten von Beschimpfungen. Antisemitische Parolen sind zu hören. Es dauert lange, bis die Polizei die Ausschreitungen beenden kann.
Auch in vielen anderen Städten wird am Samstag protestiert. In Hamburg löst die Polizei eine Kundgebung ebenfalls auf. Dort sei die Stimmung hochgekocht, als jemand eine Israel-Fahne zeigte. In Frankfurt am Main musste die Polizei nach eigenen Angaben eingreifen, als propalästinensische Demonstranten sich auf den Weg in Richtung Synagoge machten. Die Polizei setzte die Demonstranten vor Erreichen der Synagoge fest.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.