Bonner Aufbruch

Im Herzen der alten Bundesrepublik regiert ein neues Linksbündnis

Bonn mag für viele eine besondere Stadt sein, wurde sie doch vom Nachkriegskanzler Konrad Adenauer zur Hauptstadt der alten Bundesrepublik gemacht. Seitdem gilt sie als konservativ und spießig. Wer etwas erleben will, der nimmt die Bahn nach Köln.

Auch zahlreiche Behörden, die nach dem Umzug des Regierungssitzes nach Berlin weiterhin ihren Sitz in der Stadt am Rhein haben, oder die Vereinten Nationen, die eine Niederlassung aufmachten, können darüber nicht hinwegtäuschen; Bonn haftet noch immer etwas Provinzielles an. Diesen Ruf könnte die Stadt jetzt aber loswerden: Denn ein von den Grünen angeführtes linkes Bündnis regiert seit einigen Monaten die Stadt.

Einer, der die Koalition aus Grünen, SPD, Linke und Volt-Partei mitverhandelt hat, ist Michael Faber, Fraktionsvorsitzender der Linken im Bonner Stadtrat. »Bonn war als Regierungssitz immer auch eine Beamtenstadt. Historisch war die CDU hier stärkste Kraft.« Das hat sich aber mit der Kommunalwahl im vergangenen September geändert, als die Grünen die Christdemokraten überholt haben. Seitdem gibt es eine »breite, progressive Mehrheit«, sagt Faber.

Politische Agenda neu justiert

Wie es zu der Wechselstimmung kam, erklärt der 39-Jährige so: Vielen Menschen sei mittlerweile eine sozial ausgerichtete Politik wichtig. Denn auch in der 327 000 Einwohner zählenden Stadt ist bezahlbarer Wohnraum knapp; zudem bewegten Umweltthemen wie Klimaschutz und Verkehrswende die Menschen. Kernthemen der Christdemokraten sind andere. Viele hätten gesehen, »wenn die CDU mit am Ruder ist, dann lässt sich eine solche Politik nicht umsetzen«. CDU und Grüne, die zusammen mit der FDP regierten, hätten sich in den letzten fünf Jahren »gegenseitig neutralisiert« und »die heißen Eisen nicht angefasst.« Die Linke habe dagegen immer wieder Alternativvorschläge unterbreitet und »konsequente Oppositionsarbeit« gemacht. Zusammen mit der SPD habe es einen Wettstreit um die besseren Konzepte gegeben, blickt Faber zurück. An den Grünen habe die Fraktion sich »relativ forsch« abgearbeitet. Man habe »versucht, sie da zu stellen, wo sie in der Koalition mit der CDU ihre Kernanliegen vernachlässigen mussten«.

Das alles erzählt Michael Faber auf dem Platz am Frankenbad in der Bonner Nordstadt. Der Stadtteil schließt sich direkt an die Innenstadt an. Überragt wird er vom Bonner Stadthaus, einem 72 Meter hohen Klotz aus den 70er-Jahren, in dem die Verwaltung sitzt und der Rat tagt. Der Platz am Frankenbad steht symbolisch für ein Viertel, in dem die Linken und die Grünen stark sind. Bänke säumen das Areal, aus einem dreirädrigen Piaggio Ape, wird Espresso verkauft, und paar Punks sitzen mit ihren Hunden auf den Stufen des Hallenbads. Das Viertel war lange von Migranten und Alternativkultur geprägt. Jetzt steigen aber auch hier die Mietpreise.

Harmonische Verhandlungen

Die Linke hat bei den Koalitionsverhandlungen einen Milieuschutz für die Nordstadt durchgesetzt. Zufrieden erzählt Michael Faber, was die Partei alles erreichen konnte. Ein Sozialticket für 19 Euro, das bisher 30 Euro kostete, und die Rekommunalisierung der Gebäudereinigung. Bislang werden die Aufträge extern vergeben, und es gab schon häufiger Klagen über die schlechten Arbeitsbedingungen. Damit soll jetzt Schluss sein. Das Reinigungspersonal wird künftig wieder direkt bei der Stadt angestellt werden.

Es sei nicht schwierig gewesen, solche Themen in den Koalitionsverhandlungen zu besprechen, erzählt Faber. Bei vielen Themen habe es einen gemeinsamen Nenner gegeben. Jede Partei habe zwar unterschiedliche Prioritäten, aber in der Gesamtheit der Themen habe große Übereinstimmung geherrscht. Schmunzelnd erzählt Faber, dass es allerdings schwierig gewesen sei, die Koalition unter Pandemiebedingungen auszuhandeln. Immer nur Online-Meetings, das sei anstrengend und manchmal auch nervig gewesen.

Zu Michael Faber kommt sein Parteifreund Jürgen Repschläger hinzu; beide waren Kandidaten in der Nordstadt. Für die Direktmandate hat es allerdings nicht gereicht. In ihren Bezirken erreichte die Linke jeweils um die 16 Prozent. In ganz Bonn liegt sie bei 6,2 Prozent. Auch Repschläger schildert die Koalitionsverhandlungen als »erstaunlich harmonisch«. Die größten Erfolge seien, dass die Quote für Sozialwohnungen bei Neubauprojekten erhöht werden soll und dass die Stadt künftig eigene Grundstücke nicht mehr verkaufen, sondern höchstens in Erbpacht abgeben wird. Der 59-Jährige spielt dabei auf eine zweifelhafte Stadtentwicklung wie im Bahnhofsumfeld an, auf dem nichtssagende Gebäude mit den Geschäften großer Ketten errichtet wurden. Oder auf das Viktoriaviertel, das einem Einkaufszentrum weichen sollte.

Jürgen Repschläger betreibt ein Antiquariat in der Bonner Altstadt mit. In den Straßen der Altstadt blühen gerade die Kirschbäume, Gründerzeithäuser reihen sich aneinander, in den Erdgeschossen gibt es kleine Läden. Auf dem Weg zu seinem Geschäft trägt der 59-Jährige die Blumentöpfe einer älteren Frau. Sie schwatzen angeregt. Früher war das Viertel bei Konservativen als Migrantenkiez verschrien, heute steigen die Mieten, und wer sie nicht zahlen kann, muss gehen. Eine Studierendenzeitung nennt die Altstadt das Kreuzberg von Bonn. Hinter der Kasse seines Antiquariats hängt ein historisches KPD-Plakat. Lachend zeigt er darauf und erzählt, dass er im Stadtteil als Kommunist bekannt sei. Abschreckend ist das offenbar nicht.

Repschläger kennt sich aus mit den politischen Initiativen in der Stadt. Für die sei die neue Koalition ein »Hoffnungsträger«. Opposition habe zwar auch einen »Wert an sich«, erzählt er. Aber eine Erwartungshaltung, die Koalitionsverhandlungen positiv abzuschließen, sei da gewesen. Bei einem Nein der Linken hätte die engagierte Stadtgesellschaft »bestenfalls mit Unverständnis« reagiert.

Guter Dinge ist auch Annette Standop, die Fraktionsvorsitzende der Bonner Grünen, die im Rat jetzt stärkste Fraktion sind. Fast 28 Prozent der Stimmen hat die Partei erhalten, und mit Katja Dörner stellt sie jetzt auch die Oberbürgermeisterin. Über das vorherige Bündnis mit der CDU und FDP sagt sie, es sei klar gewesen, dass sie mit den Partnern nur bis zu einem bestimmten Punkt gekommen wäre. Aber keinen Schritt weiter. Wenn es etwa um Verkehrspolitik oder Klimaschutz gehe. Bei den Grünen habe eine große Müdigkeit geherrscht, dieses Bündnis fortzusetzen. »Wenn wir vor der Wahl eine Umfrage gemacht hätten, dann hätten bestimmt 90 Prozent der Grünen gesagt: alles, nur keine Fortsetzung der Koalition mit der CDU«, erzählt Standop. Nach der Wahl habe dann eine »unglaubliche Erleichterung« geherrscht, nicht mehr auf die CDU angewiesen zu sein.

Ein wichtiges Zeichen, wohin sich das politische Bonn entwickeln könne, sei die Stichwahl zum Stadtoberhaupt zwischen Katja Dörner und Amtsinhaber Ashok Sridharan von der CDU Ende September gewesen. SPD und Linke unterstützten die grüne Kandidatin. Annette Standop sagt, da habe »kein Blatt Papier« zwischen die drei Parteien gepasst. Sie glaubt, der gemeinsame Wahlkampf in der Stichwahl habe viel dazu beigetragen, dass die Parteien heute so gut miteinander harmonieren.

Dabei wurde es im Herbst noch einmal eng, als zwei grüne Abgeordnete die Ratsfraktion verließen und die Mehrheit für Rot-Rot-Grün dahin war. Annette Standop spricht von schwierigen Zeiten, bei denen SPD und Grüne aber gut reagiert hätten. Zu dem Dreierbündnis wurde die junge paneuropäische Partei Volt geholt. Sie war die Unbekannte in der neuen Koalition, habe sich aber gut in die Koalitionsverhandlungen eingefügt, meint Standop.

Der in Bonn lebende Pressesprecher des Anti-Kohle-Bündnisses Ende Gelände, Daniel Hofinger, ist aufgeschlossen gegenüber der neuen Koalition. Die Politik der CDU-geführten Vorgängerkoalitionen bezeichnet er als »Business Bonn«. Bei der Stadtentwicklung sei »voll auf neoliberale Politik« gesetzt worden. Hofinger, der seine Masterarbeit über die Bonner Wohnungspolitik schreibt, hat Erklärungen dafür, wie sich der politische Stimmungsumschwung entwickeln konnte. In den letzten Jahren gab es drei Bürgerentscheide: Bei dem einen ging es gegen die Schließung von Schwimmbädern, kürzlich gab es einen zur Förderung des Fahrradverkehrs, den die neue Koalition umsetzen will, und es fand die Auseinandersetzung um das Viktoriaviertel statt, das abgerissen werden und einem Einkaufszentrum weichen sollte. Diese Konflikte hätten viele politisiert und aktiviert, erklärt Hofinger.

Nach der Wahl im September vergangenen Jahres schrieben zivilgesellschaftliche Organisationen vom Mieterbund bis zu Seebrücke einen Forderungskatalog für eine »neue Politik der Solidarität«. Dieser »Aufbruch Bonn« sollte vermitteln, was der Zivilgesellschaft wichtig ist. Daniel Hofinger meint zwar, der Koalitionsvertrag weise schon in die richtige Richtung. »Gleichzeitig ist auch klar, da fehlt noch eine Menge.« Ein postkoloniales Erinnerungskonzept sei ebenso wenig vorhanden wie die Absicht, Wohnraum wieder in die öffentliche Hand zu überführen.

Schwierige Entscheidungen

Auch bei dem Kulturzentrum Alte VHS sei es spannend, wie die neue Koalition die Standortfrage löst. Das Zentrum sei wichtig für die kritische Stadtgesellschaft, betont Hofinger, weil sich dort viele Initiativen träfen und Veranstaltungen stattfänden. Das Zentrum gibt es erst seit wenigen Jahren, aber nun laufen die Mietverträge bald aus, und die alte Stadtratsmehrheit hatte beschlossen, dass unter anderem eine Kindertagesstätte in das Gebäude ziehen soll. Ein Alternativstandort für das Kulturzentrum ist noch nicht gefunden. Kinder gegen Kultur. Keine einfache Abwägung für die neue Koalition.

Lesen Sie auch: Linke Perspektiven. Die Diskussionen um progressive Alternativen bei den Wahlen im Herbst sind durchzogen von einer merkwürdigen
Lethargie.
Doch linke Themen scheinen in der breiten Öffentlichkeit angekommen zu sein

Festzuhalten bleibe aber, sagt Hofinger, dass Bonn »die am linkesten regierte Stadt Deutschlands ist, die noch niemand auf dem Schirm hat«. Das ändere sich allerdings gerade. Im Herbst treffen sich beispielsweise stadtpolitische Gruppen aus ganz Deutschland in Bonn. Der neuen Koalition gibt der Studierende einen Vertrauensvorschuss. Wenn sie gute Arbeit leiste, könne die Stadt im beginnenden Bundestagswahlkampf ein »Reallabor« dafür sein, wie konservative Mehrheiten abgelöst und neue Themen gesetzt werden.

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