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Mobiler als gedacht
Forscher*innen finden in der Arktis am Meeresboden Spuren von Schwämmen. Alles deutet darauf hin, dass sich die Tiere aktiv fortbewegt haben
Schwämme sind kuriose Lebensformen. Wie Fossilienfunde zeigen, bevölkerten ihre Vorfahren bereits vor rund 535 Millionen Jahren die Weltmeere. Möglicherweise sind sie aber sogar noch älter. Die meisten von ihnen beziehen ihre Nahrung, indem sie das Meerwasser über ihre Poren aufnehmen, filtern und wieder abgeben. Laut der Schwammforscherin Teresa Maria Morganti kann eine Schwammgemeinschaft von einem Quadratmeter so bis zu 146 Liter pro Minute filtern. Es gebe aber auch einige wenige fleischfressende Arten, die sich von kleinen Krebstieren ernährten. Schwämme verfügen weder über statische Organe noch über ein Nervensystem. Dennoch ist ihre Physiognomie komplexer als man früher annahm. So können sie etwa mittels Sinneszellen an den Öffnungen, über die sie das Wasser ausscheiden, Licht wahrnehmen.
Bis dato galten Schwämme wie Korallen bis auf ihre Larvenphase als sesshaft. Doch auch dieses Credo gerät nun ins Wanken: Ein internationales Forscher*innenteam um die Tiefseebiologin Antje Boetius vom Alfred Wegener Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) hat kürzlich entdeckt, dass sich auch jugendliche und erwachsene Schwämme offensichtlich selbstständig fortbewegen können, wenn auch nur wenige Zentimeter pro Jahr. Das berichteten die Forscher kürzlich in der Fachzeitschrift »Current Biology«.
Eigentlich waren Boetius und Kolleg*innen mit dem Forschungseisbrecher »Polarstern« in der Arktis unterwegs, um das Leben auf den Unterseebergen des ganzjährig eisbedeckten Langseth-Rückens zu studieren. Mit dem Ocean Floor Observation and Bathymetry System (OFOBS) - einer über Glasfaser- und Stromkabel mit dem Schiff verbundenen Schleppkamera - entstanden Aufnahmen, aus denen die Wissenschaftler*innen 3-D-Modelle erstellen konnten. Sie zeigen auf dem gesamten Unterwassergebirge von etwa 1000 Metern Tiefe bis zum höchsten Unterseegipfel bei 580 Meter Wassertiefe ausgedehnte Kolonien der Schwammarten Geodia parva, Geodia hentscheli and Stelletta rhaphidiophora.
Auch der Gipfel des etwa 350 Kilometer vom Nordpol entfernten Seebergs Karasik ist dicht mit Schwämmen besiedelt. »69 Prozent unserer Bilder wiesen Spuren aus Schwammnadeln auf, von denen viele zu lebenden Tieren führten«, berichtet der Tiefseebiologe und Mitautor Autun Purser. Zunächst nahmen die Forscher*innen an, die Schwerkraft könne die Ursache sein, doch einige der Pfade führten sogar bergauf. »In der arktischen Tiefsee treten (anders als im Mittelmeer, wo dies der Grund für die Bewegung von Schwämmen war) auch keine starken Strömungen auf, die die vorgefundenen Strukturen am Meeresboden erklären könnten«, erklärt Expeditionsleiterin Boetius. Die Tiere mussten sich also eigenständig bewegt haben.
»Wie sie das machen, weiß niemand«, sagt die Erstautorin Morganti. Tatsächlich verfügen Schwämme weder über Muskeln noch über Fortbewegungsorgane. Doch ihr ganzer Körper - oder Teile davon - könne sich selbstständig zusammenziehen oder ausdehnen, wenn er externen Reizen ausgesetzt werde. Die Wissenschaftler*innen vermuten, dass die arktischen Schwämme diese Fähigkeit für die Fortbewegung nutzen: »Sie scheinen sich über ihre Nadeln hinweg in eine Richtung auszudehnen und dann darüber hinwegzuziehen«, erklärt Purser. Dabei brechen immer wieder Nadeln ab und säumen den zurückgelegten Weg. Auch Fortsätze an der Schwammunterseite könnten für ihre Mobilität eine Rolle spielen. Verblüffend sind Größe und Gewicht der wandernden Individuen: Im Durchschnitt sind sie 17 Zentimeter groß und 1,4 Kilogramm schwer. »Es gibt dort (aber auch) Individuen mit einem Durchmesser von über einem Meter«, erzählt Morganti.
Über die Gründe für ihren Ortswechsel kann bislang nur spekuliert werden. Die Forscher*innen nehmen an, dass das geringe Nahrungsangebot in der extrem nährstoffarmen arktischen Tiefsee das Motiv dafür sein könnte. Auch könnten sie so ungünstigen Umweltbedingungen ausweichen. Möglicherweise diene das Verhalten aber auch der Fortpflanzung oder Verbreitung jugendlicher Tiere. Für Letzteres spricht, dass auf den Bildern alle Schwammspuren von den anderen Individuen fortführen.
Wie Korallen vermehren sich Schwämme asexuell durch Knospung oder sexuell, indem sie ihre Spermien ins Wasser abgeben. Benachbarte Schwämme nehmen diese auf und führen sie zu den von ihnen produzierten Eizellen. Die entstehenden Larven werden ins Wasser abgegeben und treiben dort zunächst frei, bis sie sich an einer geeigneten Stelle niederlassen und festsetzen. Dafür böten die nadelbesetzten Pfade ein günstiges Substrat, schreiben Morganti und Kolleg*innen.
Es ist das erste Mal, dass Wissenschaftler*innen derartige Spuren entdeckt haben und auf eigenständige Fortbewegung von Schwämmen zurückführen. Hilfreich war dafür, dass es in der arktischen Tiefsee sehr wenig Sedimentationsprozesse gibt. »Möglicherweise bewegen sich Schwämme auch anderswo fort, aber da es dort mehr Ablagerungen gibt, sind ihre Spuren nicht sichtbar«, so Morganti. Parallelen gibt es scheinbar in antarktischen Gewässern: »Wir schauen gerade Videoaufnahmen durch und glauben ähnliche Pfade ähnlicher Arten auch unter dem Eis in der Weddell Sea in 400 Meter Tiefe ausmachen zu können«, berichtet Purser. Unter den Schwammforscher*innen stößt die Studie auf großes Interesse. Man wolle bei zukünftigen Untersuchungen die neuen Erkenntnisse mitbeachten.
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