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- Lehrstuhl Kritik des Rechts
Herrschaftskritik braucht Rechtskritik
Felix Hanschmann über Sinn und Zweck des neu eingerichteten Lehrstuhls für Kritik des Rechts sowie die Ambivalenz des Rechts als Ort für gesellschaftspolitische Kämpfe
Können Sie zunächst einmal erklären, was Sie unter Rechtskritik verstehen und weshalb diese eigentlich notwendig ist?
Rechtskritik geht davon aus, dass das geltende Recht nicht als etwas unabänderlich Gegebenes hingenommen werden muss, sondern dass immer die Möglichkeit eines anderen Rechts besteht. Auf dieser Grundlage würde ich drei unterschiedliche Begriffe von Rechtskritik unterscheiden, die je unterschiedliche Bezugspunkte haben.
Erstens die Kritik im Recht, bei der darüber gestritten wird, ob das Recht eigentlich etwas anderes verlangt, als beispielsweise ein Gericht oder eine Behörde in einem konkreten Fall festgestellt hat. So kann eine Bürgerin etwa geltend machen, dass eine nationale Praxis gegen im internationalen Recht garantierte Menschenrechte verstößt.Zweitens kann man Kritik am Recht üben. Deren Bezugspunkt ist dann nicht das Recht selbst, sondern es werden Maßstäbe außerhalb des Rechts herangezogen.
Felix Hanschmann, geboren 1973, ist Rechtswissenschaftler und seit Mai 2021 der Inhaber des Dieter-Pawlik-Stiftungslehrstuhls für Kritik des Rechts - Grundlagen und Praxis des demokratischen Rechtsstaats an der Bucerius Law School in Hamburg. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift »Kritische Justiz«. Das Gespräch führte Tanja Röckemann.
So kann man zum Beispiel argumentieren, dass eine Regelung aus ökonomischer Perspektive nicht sinnvoll ist, gegen religiöse Vorgaben verstößt oder im Widerspruch zu Gerechtigkeitsforderungen steht. Drittens kann man das Recht als Institution kritisieren und nach den Problemen fragen, die damit unmittelbar verbunden sind. Man kann zum Beispiel überlegen, welche Nachteile damit verbunden sind, wenn Konflikte, die neben dem Recht noch weitaus mehr Aspekte und Ebenen haben, »verrechtlicht« werden.
In einer Demokratie, in der die Bürger*innen staatliche Herrschaft legitimieren und Träger*innen von Grundrechten sind, kann es kein Recht ohne Kritik geben: Wenn sich das Recht der Kritik entzieht, kann auch Herrschaft nicht in Frage gestellt werden. Zudem kann Rechtskritik auf Ungerechtigkeiten hinweisen sowie Veränderungen initiieren und steuern.
Sie befassen sich insbesondere mit dem Rechtsgebiet Öffentliches Recht. Was ist darunter zu verstehen und warum macht es Sinn, für dieses Gebiet eine Rechtskritik zu formulieren?
Das Öffentliche Recht umfasst - im Unterschied zum Privatrecht, welches die Beziehungen der Bürger*innen untereinander regelt - alle Rechtsbereiche, in denen vor allem die Beziehungen zwischen den Bürger*innen und dem Staat geregelt werden. Neben dem Strafrecht sind das beispielsweise das Verfassungsrecht und das Verwaltungsrecht. Zu Letzterem zählen unter anderem das Polizei-, Versammlungs-, Migrations-, Bau- und Umweltrecht. Bürger*innen stehen hier also typischerweise dem Staat und anderen Trägern hoheitlicher Gewalt gegenüber. Dabei geht es oft um Freiheitseingriffe oder die Gewährung staatlicher Leistungen.
Eine Kritik des Öffentlichen Rechts eröffnet nun die Möglichkeit, die Art und Weise der Ausübung staatlicher Herrschaft in Frage zu stellen und Alternativen formulieren zu können. Mittelbar geht es bei der Kritik des Öffentlichen Rechts, wie der französische Philosoph Michel Foucault einmal formuliert hat, um »die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden«.
Ein Forschungsanliegen Ihres Lehrstuhls besteht in der Untersuchung »möglicher Reformpotenziale«. Wie sehen Sie das Verhältnis von Reform und Grundsatzkritik?
Reformen und Transformationen setzen Kritik voraus, die auf Fehler und Verbesserungen hinweist. Die Bürger*innen haben das in der Verfassung verbriefte Recht, Kritik am politischen und rechtlichen System zu äußern. Kritik ist, auch wenn sie grundsätzlich wird, Lebenselixier einer Demokratie.
Aus der Entstehung des Grundgesetzes, das als Reaktion auf den nationalsozialistischen Terror konzipiert worden ist, ergibt sich, dass eine große Bandbreite an Meinungen zulässig ist. Ebenso ergibt sich dies aus der Verankerung des Demokratieprinzips und der Kommunikationsgrundrechte wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit. In diese Bereiche fällt auch grundsätzliche Kritik am politischen System.
Es existieren in Deutschland Bevölkerungsgruppen, für die die Form der juristischen Auseinandersetzung selten oder nie zu einer Lösung ihres Grundproblems führt und/oder die überdurchschnittlich von Strafverfolgung betroffen sind. So etwa von Armut betroffene Menschen, Betroffene von sexueller Gewalt oder Rassismus oder auch politische Aktivist*innen. Gibt es für dieses Gefälle grundsätzliche Gründe im Recht selbst - oder handelt es sich um Dysfunktionalitäten, die sich verändern lassen?
Das Recht steht den Verhältnissen ambivalent gegenüber: Einerseits ist es ein Medium, das bestimmte gesellschaftliche Interessen zur Geltung bringt und gegen andere Interessen absichert. Gesellschaftliche Machtverhältnisse - etwa zwischen Vermögenden und Armen, zwischen Männern und Frauen, zwischen Deutschen und Nicht-Deutschen - können im und und durch Recht stabilisiert, aber auch abgebaut werden.
Kampf ums Recht heißt, dass Rechte nicht nur eingeklagt werden können, sondern dass um das Recht gestritten wird, dass Ungerechtigkeiten mit rechtlichen Argumenten angeprangert werden können. So kann das Recht genutzt werden, um die Interessen marginalisierter oder benachteiligter Menschen zu artikulieren und durchzusetzen. Insofern hat das Recht immer auch ein emanzipatorisches Potenzial.
Andererseits muss das geltende Recht, das allen Bürger*innen Freiheit und Gleichheit verspricht, immer wieder konfrontiert werden mit seinen eigenen Ansprüchen und den realen gesellschaftlichen Verhältnissen. Abseits einer formal verstandenen Freiheit und Gleichheit haben hier zweifellos einige Menschen mehr Freiheiten als andere und sind, ebenso unbestritten, Ungleichheiten in vielfältiger Weise Realität.
Ihr Grundlagenlehrstuhl zur Kritik des Rechts an der Bucerius Law School ist bislang in Deutschland der einzige seiner Art. Warum richtet ausgerechnet eine private Hochschule einen Lehrstuhl für Rechtskritik ein?
Der Lehrstuhl ist ein Stiftungslehrstuhl. Finanziert wird er im Wesentlichen von der Dieter-Hubertus-Pawlik-Stiftung. Mit dem Stifter hatte ich vor Kurzem ein längeres Gespräch, in dem ich auch ein wenig über seine Biografie erfahren habe. Darauf gestützt vermag ich zwar zu vermuten, was ihn bewegt hat, diesen notwendigen, wichtigen und in dieser Art in Deutschland in der Tat einzigartigen Lehrstuhl zu stiften. Fragen müssten Sie ihn aber direkt.
Können Sie schon Themen nennen, die Sie mit Ihrem Lehrstuhl als erste bearbeiten werden? Wo sehen Sie besonderen Kritikbedarf?
In meiner ersten Veranstaltung, die ich im zweiten Trimester 2021 gemeinsam mit einem Kollegen anbiete, gehen wir mit den Studierenden der Frage nach, welche Ungleichheiten das Recht verdeckt oder gar reproduziert; wen es ausschließt oder diskriminiert. Hierfür nehmen wir das Verhältnis zwischen dem Recht und ökonomischen Ungleichheiten in den Blick, sowie die politische Justiz. Wir beschäftigen uns darüber hinaus mit der Bedeutung von Geschlecht und »Rasse« als Kategorien im Recht und untersuchen, welche Rolle die juristische Ausbildung eigentlich bei der Reproduktion von Exklusionen im und durch das Recht spielt.
In der Zukunft würde ich gerne unterschiedliche Theorien der Rechtskritik mit der Praxis des Rechts verbinden, vor allem für die Lehre an der Hochschule. Studierende würde ich gerne einbeziehen in strategische Prozessführungen zivilgesellschaftlicher Organisationen: Wenn solche Organisationen zum Beispiel das in vielen Rechtstexten garantierte Recht auf Gesundheit für Menschen ohne Krankenversicherung einzuklagen versuchen. Oder wenn »papierlosen« Kindern und Jugendlichen in Deutschland der Schulbesuch entgegen dem ebenfalls vielfach gewährleisteten Recht auf Bildung verwehrt wird. In solche Vorgänge können Studierende mit hohen Lerneffekten einbezogen werden.
Eine andere Möglichkeit, Studierende mit realen Problemen und den damit verbundenen Rechtsfragen zu konfrontieren, sind »Law Clinics«. Durch Behandlung solcher Themen erhoffe ich mir nicht zuletzt auch eine weitere Stärkung der Offenheit der Hochschule besonders gegenüber der Hamburgischen Bevölkerung in ihrer großen Diversität.
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