• Berlin
  • Demo in Berlin gegen Mietenwahnsinn

Wenn schon nicht der Deckel, dann der ganze Topf

10.000 Teilnehmer bei Demonstration gegen Mietenwahnsinn in Berlin

  • Yannic Walther
  • Lesedauer: 4 Min.

Auf dem Potsdamer Platz in Berlin weht ein lila-gelbes Fahnenmeer des Volksbegehrens »Deutsche Wohnen und Co enteignen«. Zusammen mit anderen Aktivisten ziehen am Pfingstsonntag die Unterstützer der Vergesellschaftung großer privater Wohnungsunternehmen von hier bis zum Schöneberger Nollendorfplatz. Etwa 10.000 Menschen beteiligen sich nach Schätzung der Veranstalter an der Demonstration, zu der das Mietenwahnsinn-Bündnis aufgerufen hatte. Sprechchöre machen deutlich, dass in der Hauptstadt nur noch eine Verdrängung akzeptiert wird - die der Miethaie. Verstößen gegen die Corona-Regeln waren laut Polizei nicht bekannt.

»Wir sind das Investitionsrisiko für die Spekulanten«, so die gleich zu Beginn unter lautstarkem Beifall vom Lautsprecherwagen ausgegebene Devise. Beim Kampf gegen Verdrängung brauche es den Druck von unten. »Mit dem Aus für den Mietendeckel habe ich mein Vertrauen darin verloren, dass Parteien und Parlamente das Mietenproblem lösen werden«, sagt beispielsweise Berit von der Akelius Mieter*innenvernetzung, die ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Ihr Vermieter gehört zu den Kandidaten für eine mögliche Enteignung. Auch wenn darüber erst im September abgestimmt werden könnte, freut sich Berit über einen ersten Erfolg. So übte der Bezirk Neukölln diese Woche das Vorkaufsrecht für zwei von Akelius gekaufte Häuser aus, die das Unternehmen mittels eines Sharedeals erworben hatte, mit dem Vorkäufe eigentlich umgegangen werden können.

Ein anderer Vorkauf lässt gerade die Mieter der Hermannstraße 48 bangen. Im Februar hat der Bezirk Neukölln das Vorkaufsrecht zugunsten der Hausgemeinschaft ausgeübt. Die Mieter haben dadurch die auch am Sonntag beliebte Parole »Die Häuser denen, die drin wohnen« eigentlich wahr machen können. Doch sowohl Verkäuferin als auch ursprüngliche Käuferin haben Widerspruch eingelegt, wodurch das Haus vorerst in den Händen der vorigen Eigentümerin verbleibt. »Durch die Abmahnungen und Kündigungsdrohungen, die gerade gehäufter an uns gehen, und den Ausblick auf eine Gerichtsentscheidung, die erst in mehreren Jahren kommen könnte, fühlt sich unsere Situation gerade sehr unsicher an«, sagt Johanna von der Hausgemeinschaft im Vorfeld der Demo gegenüber »nd«. Einer der Gründe, weswegen auch die Mieter der H48 am Sonntag auf die Straße gegangen sind.

Fast schon Tradition der Mietenwahnsinn-Demo ist die Routenführung entlang der Standorte von Potse und Drugstore, wo die Demonstration dieses Jahr mit Pyrotechnik begrüßt wird. Bereits beim Auftakt 2018 endete die Demo vor den Jugendclubs, wodurch die Politik sie erstmals ernst nahm, wie einer der Potse-Aktivisten am Sonntag sagt. Drei Jahre später ist der Drugstore immer noch ohne Räumlichkeiten. Die Potse hingegen konnte diese Woche ihre Räumung gegen eine Sicherheitszahlung um zwei Monate verschieben. Erst wenn sie den Mietvertrag für ein geeignetes Ausweichquartier unterschrieben haben, wollen die Jugendlichen die Räume in der Potsdamer Straße 180 verlassen.

Gerade sieht es gut aus, dass die Zollgarage auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof das neue Domizil werden könnte. Doch ebenso wie Akelius-Mieterin Berit haben auch die Jugendlichen von der Potse wenig Vertrauen in die Politik. »Es ist absurd, dass Bezirk und Land an einer Räumung festgehalten haben und wir unter Rot-Rot-Grün als Jugendliche 10.000 Euro für die Sicherheitszahlung zusammenkratzen mussten«, sagte einer von ihnen auf der Demonstration. Dass sie seit mittlerweile zweieinhalb Jahre den Jugendclub besetzt halten, wäre nur durch die Unterstützung der Mieterbewegung möglich gewesen.

Die Berliner Mieterbewegung bekommt am Sonntag selbst Unterstützung. Neben Klima- und Gesundheitsaktivisten haben sich auch Unterstützer von »Deutsche Wohnen und Co enteignen« aus anderen Städten in den Aufzug eingereiht. Diese haben am Wochenende an einem Camp des Volksbegehrens teilgenommen, bei dem Unterschriften für die Enteignung gesammelt wurden.

Selma ist eine von ihnen. Mehrere Jahre hat sie in Berlin gelebt, studiert aber jetzt in Greifswald. »Von der Berliner Mieterbewegung können andere Städte lernen«, sagt sie mit Blick auf die Hansestadt, die durch Abriss und Neubau aufgewertet werden soll. Ein Grund für ihren Umzug nach Greifswald sei gewesen, endlich »schön« wohnen zu können - also nicht nur in kleinen, dunklen und zugleich teuren Zimmern wie zuvor in Berlin.

Bis man auch hier wieder schön und sorgenfrei wohnen kann, werden – wenn überhaupt – noch einige Mietendemos vergehen.

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