• Politik
  • Sexualisierte Gewalt in der Kirche

Im Namen der Aufarbeitung

Die evangelische Kirchenrätin Daniela Fricke kämpft gegen sexualisierte Gewalt

  • Andreas Boueke
  • Lesedauer: 8 Min.

Es ist, als wäre ein Damm gebrochen. Immer mehr Fälle werden bekannt, in denen Menschen in Räumen der Kirche zu Tätern wurden. Immer häufiger sprechen Betroffene von sexualisierter Gewalt über ihr Gefühl der Ohnmacht. Das Prinzip »Täterschutz vor Opferschutz« hat sich als Eigentor erwiesen.

In den zwanzig Landeskirchen der evangelischen Kirche in Deutschland, EKD, sind bisher offiziell knapp 900 Missbrauchsfälle bekannt. Diese Zahl sei »nicht einmal die Spitze des Eisbergs«, sagen ehemalige Mitglieder des Betroffenenbeirats der EKD, dessen Arbeit kürzlich ausgesetzt wurde. Das hat die Kontroverse über die Rolle der Betroffenen im Aufarbeitungsprozess weiter befeuert. Die evangelische Kirche musste reagieren.

Daniela Fricke

Die Kirchenrätin ist froh, dass ihre Kirche heute auf der Seite der Betroffenen stehen will. Gleichzeitig ist sie aber auch frustriert, dass offenbar noch immer Überzeugungsarbeit geleistet werden muss.

Tatsächlich werde das Thema ernst genommen und sei längst auf der Leitungsebene der Kirche angekommen, versichert Kirchenrätin Daniela Fricke: »Die öffentliche Diskussion und auch die Befassung mit dem Thema in unserer Kirche haben deutlich gemacht, dass wir dieses Thema nicht mit einem kleinen Aufgabenbereich einer Referentin voranbringen können.«

Heute bekommen Menschen Aufmerksamkeit, die in den 1960er-Jahren als Kinder in kirchlichen Heimen missbraucht wurden. Männern wird zugehört, wenn sie berichten, wie sie in den 1990er-Jahren als Jugendliche bei evangelischen Freizeiten von Erwachsenen zu sexuellen Handlungen genötigt wurden. Junge Frauen haben den Mut, nicht zu schweigen, wenn sie von Amtsträgern bedrängt und eingeschüchtert werden.

Ein Anliegen der Frauenbewegung

Als Pfarrerin, Seelsorgerin und öffentliches Gesicht für dieses Thema will Daniela Fricke einen angemessenen Umgang der evangelischen Kirche Westfalen mit Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung sicherstellen. »Meine Aufgabe ist es zu aller erst, Ansprechperson für Betroffene von sexualisierter Gewalt zu sein, diese Menschen zu beraten, zu begleiten, in seelsorgerischer Verschwiegenheit.«

Von außen betrachtet ist das Landeskirchenamt in Bielefeld, wo Daniela Fricke arbeitet, in einem protestantisch-sachlichen 1950er-Jahre-Bau untergebracht. Aber das weitläufige Treppenhaus im Inneren vermittelt eine gewisse Atmosphäre kirchlicher Erhabenheit. Nicht ohne Stolz erwähnt Daniela Fricke, dass das Gebäude 1998 unter Denkmalschutz gestellt wurde. Von hier aus hat sie die Entscheidung begleitet, ein unabhängiges, interdisziplinäres Team von Forscherinnen und Wissenschaftlern einzusetzen, um einen Bericht zur sexualisierten Gewalt in der evangelischen Kirche auszuarbeiten.

Im Jahr 2023 sollen Ergebnisse vorliegen. Die EKD, eine Dachorganisation für die 21 Millionen evangelischen Christinnen und Christen in Deutschland, beteiligt sich mit 3,6 Millionen Euro an der Finanzierung der Studie. Daniela Fricke findet die Aufarbeitung gut. »Weil sich kirchliches Leben und sexualisierte Gewalt kategorisch widersprechen. Das passt nicht zusammen. Unser Auftrag als evangelische Kirche ist es, das Evangelium, die frohe Botschaft der Liebe Gottes in alle Welt zu tragen.

Wir stehen dafür, dass Menschen bei uns Räume eröffnet bekommen, in denen sie sich begegnen können, in denen sie stärkende Erfahrung machen. Sexualisierte Gewalt bedeutet das Gegenteil. Menschen nutzen Machtverhältnisse aus, um eigene sexuelle Begierde zu befriedigen. Sie fügen anderen Leid zu, muten ihnen Erfahrungen zu, die ein Leben lang prägen und aufwendig therapeutisch aufgearbeitet werden müssen.«

Der Begriff »sexualisierte Gewalt« beschreibt Handlungen mit sexuellem Bezug, ohne dass die Betroffenen einwilligen. Wenn Frauen sexualisierte Gewalt erfahren, sind fast immer Männer die Täter. So wurde die Vermeidung sexualisierter Gewalt eines der zentralen Anliegen der modernen Frauenbewegung, in der sich auch Daniela Fricke heimisch fühlt.

Doch längst nicht alle evangelischen Christen sind überzeugt von den Bemühungen der Kirchenoberen um Aufklärung und Entschädigung. Betroffenengruppen sprechen von »Aufarbeitungssimulation«. Es gibt noch immer Menschen, denen in Räumen der Kirche Leid zugefügt wird, ohne dass je über ihre Fälle gesprochen wird.

Daniela Fricke hält die Berichte von Betroffenen für den wichtigsten Zugang zu der Problematik. »Ich bemühe mich, ihnen deutlich zu machen, dass wir sie ernst nehmen mit dem, was sie berichten, und dass ich konsequent handeln werde. Das bedeutet dann eben auch, dass wir tätig werden müssen und Schritte einleiten gegenüber potenziellen Täterinnen und Tätern.«

Im Jahr 2016 wurde die erste innerkirchliche Vereinbarung zu dem Thema verfasst, mit dem Ziel, einen angemessenen Umgang mit sexualisierter Gewalt zu finden und verpflichtende Schutzkonzepte zu entwickeln. Daraufhin brachte die EKD eine sogenannte »Gewaltschutzrichtlinie« auf den Weg, die allen Landeskirchen als Musterkonzeption für ein Kirchengesetz gilt.

Als Pastorin ist Daniela Fricke eine erfahrene Seelsorgerin. Viele Menschen erzählen ihr von erschreckenden Gewalterfahrungen. Auch deshalb ist sie froh, dass ihre Kirche heute eindeutig auf der Seite der Betroffenen stehen will. Gleichzeitig ist sie aber auch frustriert, dass offenbar noch immer Überzeugungsarbeit geleistet werden muss. »Mein spontaner erster Gedanke wäre, dass Christus sagen würde: ›Ach, habt Ihr es immer noch nicht verstanden? Ist es tatsächlich immer noch notwendig, ein Gesetz zu formulieren, um den Menschen zu sagen, wie sie sich zu verhalten haben?‹ Das sollte doch selbstverständlich sein.«

Die Kirchenrätin stellt sich vor, dass Christus heute mit einer gewissen Ungeduld auf das neue Gesetz zum Schutz vor sexualisierter Gewalt blicken würde. Auch Menschen, die Missbrauch erlebt haben, geht der Prozess nicht schnell genug. Betroffenengruppen fordern mehr Transparenz in der Aufarbeitung älterer Missbrauchsfälle und kritisieren den Umgang einiger Landeskirchen mit den Opfern. Demgegenüber gibt es aber auch manche Kirchenmitglieder, die zweifeln, ob so ein Gesetz überhaupt notwendig ist. Sie denken noch immer, die Kirche müsse sich angesichts der vielen Anklagen verteidigen, um Schaden von der Institution abzuwenden und Würdenträger zu schützen.

Das Thema sexualisierter Gewalt ist unbequem. Das weiß auch Daniela Fricke. »Immer wieder höre ich den zweifelnden Kommentar: ›Das kommt doch so selten vor.‹ Oder: ›Bei uns doch nicht.‹ Vereinzelt gibt es auch Fragen wie: ›Wollt ihr jetzt die Liebe verbieten? Dürfen wir überhaupt noch Beziehungen miteinander haben?‹ Dem kann man aber gut begegnen - mit Überzeugungsarbeit.« Sie hat nicht den Eindruck, dass die evangelische Kirche heutzutage besonders sexualitätsfeindlich sei.

»Auch die alten Texte der Bibel erlauben sexuellen Genuss. Ich nehme das als eine positive Sicht auf Sexualität wahr. Das beginnt schon mit der Schöpfungsgeschichte: ›Seid fruchtbar und mehret Euch.‹ Der Mensch als Geschöpf Gottes, füreinander bestimmt, darf auch miteinander körperliche Liebe genießen, als gute Gabe.«

Das zentrale Anliegen des neuen Kirchengesetzes ist es, kirchliches Leben freizuhalten von sexualisierter Gewalt. Von den Mitarbeitenden der Kirche erwartet Daniela Fricke, dass sie sich dem Gesetz entsprechend verhalten und handlungssicher werden. »Zum Beispiel in Beratungsstellen, in denen wir darauf angewiesen sind, dass geschützte Räume existieren, die eben nicht einsehbar sind. Dort erwarten wir, dass alle das Nähe- und Distanzverhältnis kennen. Besonders, wenn sie in Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen mit anderen stehen. Sexuelle Kontakte sind ausgeschlossen. Wenn Menschen sich näher kommen, dann muss ein Beratungsverhältnis beendet werden. Nach einer geraumen Zeit können sehr wohl sexuelle Beziehungen eingegangen werden.«

Die Kirchenrätin vermutet, dass die zuletzt heftige öffentliche Debatte über sexuellen Missbrauch viele Betroffene dazu motiviert hat, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Dinge, die früher im Verborgenen blieben, werden heute thematisiert. »Deshalb gibt es eine Zunahme von Anzeigen«, erklärt sie. »Die sind häufig verbunden mit dem Wunsch der Betroffenen, dass andere nicht dasselbe durchmachen müssen. Oft höre ich die Frage: ›Ist der damalige Täter noch in der Kirche beschäftigt, kann er noch weiter Unheil anrichten?‹«

Wenn Betroffene es wollen, kann die Kirchenrätin aktiv werden, bis hin zur strafrechtlichen Anzeige. Bei aktuellen Fällen spielen immer häufiger soziale Medien eine Rolle. »Oft geht es um das Versenden oder Einfordern von Fotos, von eindeutigen Nachrichten, von Verabredungen. Zu mir kommen Menschen, die jetzt gerade Formen sexualisierter Gewalt erleiden, in ihrer Gemeinde, der Jugendarbeit, der Kirchenmusik oder den diakonischen Einrichtungen.«

Früher brauchten unverschämte, einflussreiche Vorgesetzte keine Sanktionen zu fürchten, auch nicht in der Kirche. Jetzt aber bläst ihnen der Wind ins Gesicht. Insbesondere unter dem »Hashtag MeToo« werden zahllose aufrüttelnde Berichte veröffentlicht. Frauen empören sich über blöde Anmache, klagen unverdiente Bevorteilung von Männern an und trauen sich, über grausame Vergewaltigungen zu sprechen. Auch das Geschehen im Umfeld der beiden großen Kirchen in Deutschland hat viel Aufmerksamkeit bekommen.

Schutzkonzepte in den Startlöchern

Seitdem die EKD ihre Gewaltschutzrichtlinie veröffentlicht hat, soll sich jede evangelische Kirchengemeinde dazu verpflichten, ein Schutzkonzept zu entwickeln. Alle Mitarbeitenden sollen geschult werden zu Themen wie »Nähe und Distanz«, »Formen sexualisierter Gewalt« und »Achtsamkeit im Umgang miteinander«. In diesem Prozess stecke auch ein gesellschaftliches Potenzial, meint Daniela Fricke: »Wir haben schon die Hoffnung, dass wir in die Gesellschaft hineinwirken und einen Beitrag dazu leisten, um Menschen vor sexualisierter Gewalt zu schützen.«

Einen Dämpfer haben diese Bemühungen durch die Corona-Pandemie erhalten. Informationsveranstaltungen waren geplant, Konferenzen und Seminare angekündigt. Doch plötzlich war es nicht mehr möglich, dass hundert Leute zusammenkommen. »Darunter haben wir gelitten«, räumt Daniela Fricke ein. »Unter diesen Umständen ist es schwierig, dass sich die Gemeinden vor Ort angemessen mit dem Thema beschäftigten. Den Entwurf eines Kirchengesetzes per Mail zu versenden, ist nicht dasselbe, wie wenn ich mit den Menschen darüber spreche und sie auf dem Weg begleite.«

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Besondere Aufmerksamkeit bekommen Personen, die mehr Kontakt zu Jugendlichen haben. Grundsätzlich aber sollen alle Mitarbeitenden der Kirche einbezogen werden, der Friedhofsgärtner genauso wie die Erzieherin in der Kita. »Dabei sollen Multiplikatorinnen und Multiplikatoren helfen«, erklärt Daniela Fricke. »Sie werden Schulungen durchführen und die Schutzkonzepte erläutern. Corona hat uns ausgebremst. Aber nach und nach nehmen wir wieder Fahrt auf. Wir werden die Dinge vorantreiben, viele Aktivitäten nachholen und den Prozess zu Ende bringen.«

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