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  • Oscar Wildes »Bunbury« in Wien

Keine Hochkultur ohne Würstelstand

Mit Oscar Wildes »Bunbury« zeigt Regisseur Antonio Latella in Wien Versteckspiele zwischen Tugend und Lust

  • Michael Wolf
  • Lesedauer: 6 Min.

In Wien freut sich das Publikum wohl noch ein wenig mehr über die jüngste Öffnung der Kulturstätten als in Berlin oder München. In Österreich hat die Kultur einen anderen Stellenwert. Vom mächtigen Kaiserreich zu einem Alpenstaat geschrumpft, sind Kultur und Wintersport die Disziplinen, in denen man international immer noch ganz oben mitmischen kann. Man hält die Kultur also hoch - und leistet sich mit dem Burgtheater eine der teuersten Bühnen der Welt. Stellte man das Deutsche Theater oder das Maxim-Gorki-Theater in Berlin neben diesen Palast, schrumpften sie auf die Größe von Gesindehäusern.

Bei all dem Glanz und der Größe darf die Verbindung zum Profanen und Triebhaften aber keineswegs fehlen: keine Disziplinierung ohne Durchwursteln, keine Tugend ohne Freud’sches Es, keine Hochkultur ohne Würstelstand daneben also. Hier gibt es im hochkatholischen Österreich auch sonntags noch alles, was das Herz begehrt, ein Vollprogramm aus Zigaretten, Dosenbier - und natürlich die Würstl, mit Zwiebeln drauf oder Käse drin oder als »Riesenhotdog« mit süßem Senf darauf und mit Gebäck ummantelt für jene Zartbesaiteten, die einen allzu scharfen Blick auf die realen Verhältnisse scheuen. Und hier hat ein Zuschauer dann auch kurz vor Beginn der Vorstellung einen ikonischen Auftritt. Da kommt er in seinem Premierenoutfit an die Theke, bestellt sechs Gösser um 3,60 Euro die Dose und - »Machen’s 25 draus!« - zahlt mit einem Hunderter. Ganz groß ist das, wie sich hier die finanzielle Potenz am Dosenbier, wie sich das Geld, mithin die Fiktion, am Faktischen abarbeitet, in der Hoffnung, im Rausch dialektisch aufgehoben zu werden.

Womit wir schon mitten im Akademietheater wären, der kleineren Spielstätte des Burgtheaters, wo die bessere Gesellschaft auf der Bühne so ihre Mühe damit hat, ihre Leidenschaften mit den eigenen Ansprüchen in Einklang zu bringen. Oscar Wildes »Bunbury« steht auf dem Programm, uraufgeführt 1895, also kurz bevor die viktorianische Justiz den Autor wegen seiner Homosexualität ins Zuchthaus steckte. Wilde starb wenige Jahre später, von der Haft entkräftet, in Paris. Seine Komödie handelt von den Versteckspielen, die nötig sind, um die oberflächlichen Forderungen nach Tugend und Ansehen mit den allzu menschlichen Bedürfnissen nach Vergnügung und Freiheit zu vereinbaren.

Die zwei englischen Gentlemen Algernon (Tim Werths) und Jack (Florian Teichtmeister) haben sich Alibis für ihre Ausschweifungen zugelegt. Wenn Algernon zum Vergnügen aufs Land fahren will, behauptet er, sich dort um einen kränkelnden Freund namens Bunbury kümmern zu müssen. Und Jack gibt sich in London als ein gewisser Ernst aus, während er seinem Umfeld auf dem Land vorschwindelt, er müsse seinen fiktiven Bruder davon abhalten, auf die schiefe Bahn zu geraten. Die Maskerade tut ihren Dienst, bis sich die beiden in zwei Damen verlieben, die jeweils den unerschütterlichen Wunsch hegen, einen Mann zu heiraten, der Ernst heißt. Sie sind sich auch sicher, diese Herren in Jack und Algernon bereits gefunden zu haben, was diese in Bedrängnis bringt, nicht nur ihren wahren Lebenswandel zu vertuschen, sondern auch irgendwie an ehrbare Namen zu kommen.

Das Stück leidet auf Deutsch gespielt ein wenig an der Unübersetzbarkeit der Pointe, von der hier alles abhängt. Im Original heißt es »The Importance of Being Earnest« (Die Wichtigkeit, Ernst zu sein). »Earnest« ist im Englischen sowohl ein Name als auch ein Adjektiv, das sowohl mit »ernst« als auch mit »aufrichtig« zu übertragen wäre. »Ernst« ist also so etwas wie eine Notlösung, die Regisseur Antonio Latella vielleicht zum Anlass genommen hat, das Stück noch etwas alberner zu interpretieren, als Wilde es ohnehin anlegte.

Das achtköpfige Ensemble dreht mächtig auf. Gleich mehrmals wiederholen sie einen kleinen Auftritt wie bei dem Kinderspiel »Stoppessen«, mal ganz schnell, dann langsam, dann rückwärts nehmen Lady Bracknell (Regina Fritsch) und Tochter (Mavie Hörbiher) die Wohnung des Neffen Algernon in Beschlag. Immer wieder gibt er das Kommando und ein neuer Auftritt folgt. Noch in weiteren Szenen übernimmt ein Schauspieler die Kontrolle über die anderen. Regina Fritsch kommandiert das ganze Ensemble hin und her. Einzeln hetzen die anderen Spieler zu ihr an eine Ballettstange, erschrecken beim Anblick ihres hochaufgetürmten Fascinators und fliehen schnell wieder.

Hörbiger mault als verwöhnte Tochter herum und stolziert immer wieder über die leere Bühne (Annelisa Zaccheria), als wäre sie ein Laufsteg. Mehmet Ateşçi hat einen besonderen Auftritt in einer weiblichen Rolle als Erzieherin Miss Prism. Sie hatte Jack als Säugling in der Stadt verloren. Nun beichtet sie das Missgeschick, als hätte sie nur darauf gewartet. Ateşçi springt von Spotlight zu Spotlight, suhlt sich heulend und genussvoll im Unglück, das sie heraufbeschwor.

Sie alle buhlen hier um Aufmerksamkeit, spielen gern alles drei Nummern zu groß. Das passt in gewisser Weise zur Programmatik des Autors, auch wenn dessen Stück dabei doch an vielen Stellen zerfasert. Wilde erhob die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit zum Ziel des Menschen, dem Dandy ging es um Individualität. Latellas Inszenierung bringt, so schrill sie auch mitunter daherkommt, ein wenig von jener Tragik auf die Bühne, die diese Maxime in sich trägt. Denn Individualität, als der Auftritt des Eigenen, kommt hier nur im Modus des Gesehen-Werdens vor.

Die Figuren kämpfen um das Bühnenlicht, spielen laut auf, um bloß nicht in den Hintergrund zu geraten. Wenn das Eigene aber nur durch den Blick der anderen zum Ausdruck kommt, ist jede Individualität immer schon fremdbestimmt. Dann gibt es nichts im Kern eines Menschen außer dem Wunsch nach Anerkennung einer leeren Hülle. Ferngesteuert sind diese Figuren von den Ansprüchen und den Erwartungen, die sie so gern, auch im Schlechten, zu erfüllen suchen, ferngesteuert wie die Ratten, die Marcel Heupermann lachend von der Bühne verscheucht.

Heupermann gibt an diesem Abend den Butler und zugleich eine Art Conférencier, kündigt die nächsten Akte an oder ruft wie ein Box-Promoter einen neuen »Gay Moment!« aus, wenn die Figuren kurzzeitig mal wieder aus ihren Rollen fallen. Denn immer wieder ist alles Versteckspiel und auch alle tugendhafte Sehnsucht nach dem Mann namens Ernst für kurze Zeit vergessen. Dann küssen sich die weiblichen »Love Interests« leidenschaftlich, oder die Gentlemen raufen sich in der Unterbühne, bis einer mit heruntergelassener Hose wieder hinaufsteigt.

Hierin liegt Latellas zweiter Schwerpunkt: Er rückt die homosexuellen Andeutungen des Stücks in den Vordergrund. Das ergibt Sinn, kann von großen Gefühlen bei den Figuren doch kaum die Rede sein. Warum sollten die Gentlemen plötzlich heiraten wollen? Es scheint, als spielten sie nur eine weitere Rolle: die der Verliebten, die nun endlich ein ehrbares Leben führen wollen. Tief in ihnen wollen aber diese Männer hier viel lieber mit den Männern und die Damen mit den Damen knutschen. Nur das herauszuarbeiten, ist allerdings etwas wenig für das Jahr 2021 - und erst recht für die Wiener Zuschauer, deren Klatschen ein wenig klingt, als würden sie zugleich mit den Schultern zucken.

Nächste Vorstellungen am 4., 15. und 17.6.

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